Algeriens Politiker wissen nicht weiter

Die vorgezogenen Präsidentschaftswahlen treffen fast alle Parteien auf dem falschen Fuß und verdeutlichen die politische Krise. Nur die Islamisten sind mit dem Rücktritt von Präsident Liamone Zéroual zufrieden  ■ Von Reiner Wandler

Madrid (taz) – Die Ankündigung vorgezogener Präsidentschaftswahlen durch Staatschef Liamine Zéroual hat Algeriens politische Klasse in eine tiefe Krise gestürzt. Zéroual lud in den letzten 14 Tagen die Parteivorsitzenden zweimal zu sich, um den Urnengang vorzubereiten. Doch weder Regierung noch Opposition sind von den Wahlen im Februar begeistert. Sie trugen wiederholt die Bitte an den gesundheitlich und politisch geschwächten Exgeneral Zéroual heran, bis zum urprünglichen Wahltermin Ende des Jahres 2000 durchzuhalten. Vergebens: Zéroual „will dem Wechsel an der Macht einen Chance geben“, auch wenn keine der Parteien weiß, was sie mit diesem Angebot anfangen soll.

„Algeriens Politik befindet sich in einer Sackgasse“ lautet die Bilanz der unabhängigen Presse über die Amtsführung Zéroauls. Zwar hat das Land seine Devisenreserven unter Anleitung des Internationalen Währungsfonds (IWF) erhöht, doch soziale Probleme wie Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot werden immer unerträglicher. Bei der inneren Sicherheit sieht es nicht viel besser aus. Zwar bleiben die großen Städte mittlerweile von spektakulären Anschlägen verschont. Doch nur wenige Kilometer außerhalb gibt es Monat für Monat Hunderte Opfer von Massakern und Bomben. Zéroual versprach Lösungen, doch er hat die Probleme festgeschrieben.

Wer jetzt auf frischen Wind hofft sieht sich getäuscht. Der Regierungspartei Nationaldemokratische Versammlung (RND) fehlen Ideen und der Handlungsspielraum im Machtgeflecht der Clans. Und die Opposition ist in einem ganz auf das Präsidentenamt zugeschnittenen politischen System zur Handlungsunfähigkeit verdammt.

Um aus der Krise zu kommen, müßte die RND einen „repräsentativen Kandidaten mit breiter sozialer Unterstützung“ aufstellen, so der Wunsch ihres Koalitionspartners, der gemäßigt islamistischen MSP-Hamas. Doch bei der erst Anfang 1997 auf Betreiben Zérouals als tragende Staatspartei gegründeten RND fehlt ein solcher Kandidat. Intern ist die Partei so zerstritten wie nie. Vor wenigen Tagen trat der ehemalige Regierungschef Mokdad Sifi aus dem Parteivorstand zurück. Er und seine Anhänger werfen der RND vor, die sich hauptsächlich aus ehemaligen Mitgliedern der früheren Einheitspartei FLN, Beamten und Militärs speist, nur noch „Opportunisten anzuziehen“ und „die Wünsche der Bürger zu übergehen“.

Sifi bringt sich damit um eine eigene Kandidatur und seinen parteiinternen Erzrivalen, den derzeitigen Regierungschefs und Zéroual-Zögling, Ahmed Ouyahia, in Bedrängnis. Gegen den laufen innerhalb der RND vor allem die Vertreter des Gewerkschaftsverbandes UGTA Sturm. Er setzte das vom IWF diktierte Wirtschaftsprogramm um. Über 500 Betriebe wurden bisher geschlossen, 80.000 Arbeitsplätze gingen verloren. Ein explosives soziales Klima ist die Folge.

Zwar handeln verschiedene algerische Zeitungen Ouyahia immer wieder als legitimen Nachfolger Zérouals. Doch seine Kandidatur scheint unwahrscheinlich, weil sie den endgültigen Bruch nicht nur innerhalb der RND, sondern auch zwischen Staatsführung und Gewerkschaft bedeuten würde.

Bis vor wenigen Wochen galt Zérouals Berater, General Mohammed Betchine, als möglicher Kandidat. Doch dann wurde er in einer Pressekampagne regelrecht demontiert. Die treibenden Kräfte hinter den Veröffentlichungen dürften aus Kreisen um den Oberbefehlshaber der algerischen Armee, Mohamed Lamari, stammen. Ihm war der Präsidentenpalast längst zu mächtig geworden. Korrupt sei Betchine, ein einflußreicher Mann aus dem militärischen Geheimdienst, lautet der Vorwurf. Er wird durch die Inhaftierung einer seiner Geschäftspartner bestätigt. Betchine geriet außerdem wegen des Todesurteils gegen einen seiner Kritiker in die Schlagzeilen. Der Vorwurf des Terrorismus gegen den in Deutschland lebenden Professor Ali Bensaad mußte als haltlos zurückgezogen werden.

Bei der ebenfalls in der Regierung vertretenen ehemaligen Einheitspartei FLN kommt Schadenfreude auf. Anders als die RND hat die FLN gleich mehrere starke Männer: Einer davon ist der einstige Regierungschef und Reformpolitiker Mouloud Hamrouche. Er hofft jetzt darauf auch bei RND- Kritikern und den allmächtigen Militärs Unterstützung zu finden.

Im Lager der demokratischen Opposition herrscht ebenfalls Ratlosigkeit. Die größte Oppositionspartei, die Front der Sozialistischen Kräfte (FFS), fordert seit Jahren vergeblich „einen Dialog zur nationalen Aussöhnung“ einschließlich der verbotenen Islamischen Heilsfront (FIS). Je länger der Konflikt anhält und je grausamer die terroristischen Aktionen werden, um so mehr bringt sich die FFS mit dieser Forderung ins politische Abseits. Der Parteivorstand wird deshalb aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr wie vor drei Jahren zum Wahlboykott aufrufen, sollte der Dialog weiter ein Wunschtraum bleiben. Doch auch der FFS fehlt ein Kandidat. Denn Parteichef und Bürgerkriegsveteran Hocine Ait Ahmed scheint wenig geneigt, sein Schweizer Exil gegen Algier einzutauschen. Dabei könnte gerade er die Rolle eines „Kandidaten der nationalen Aussöhnung“ einnehmen, wie er der verbotenen FIS vorschwebt.

Die Islamisten sind als einzige mit der „politischen Sackgasse“ zufrieden. „Zurück zum Start?“ fragt die in Bonn ansäßige FIS-Auslandsleitung nach dem Rücktritt Zérouals. Sie wittert eine Chance, knapp sieben Jahre nach ihrem Verbot auf die politischen Bühne zurückkehren. Parteisprecher Abdelkrim Ouldada will Spekulationen um einen möglichen unabhängigen FIS-nahen Kandidaten weder bestätigen noch dementieren. Die Islamisten hoffen auf die Duldung durch Armeechef Lamari. Mit ihm steht der bewaffnete Arm der FIS, die Armee des Islamischen Heils (AIS), in regelmäßigem Kontakt, so bestätigen Kreise um die FIS-Auslandsleitung. Seitdem die AIS vor einem Jahr mit der Armeeführung einen Waffenstillstand aushandelt hat, gehen ihre Mannen vielerorts gemeinsam mit den Soldaten gegen die radikalen Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA) vor, die für unzählige Massaker verantwortlich zeichnen. Die FIS erwartet jetzt eine politische Belohnung.