Die Musik wird zur Architektur

Vor 35 Jahren, am 15. Oktober 1963, eröffnete die Philharmonie. Eines der schönsten Konzerthäuser mag heute niemand so recht leiden, weil der Bau so blöd in der Gegend herumsteht. Jetzt stört der Verkehr den Klangkörper  ■ Von Rolf Lautenschläger

Auf die Berliner Philharmonie sind die derzeitigen Macher der Hauptstadt nicht gut zu sprechen. Auf das „unwirtliche Fragment moderner Nachkriegsarchitektur“ hauen Planer wie der langjährige Senatsbaudirektor Hans Stimmann ein, als handle es sich bei dem gelben Unikum am Kulturforum um eine schnöde Bretterbude. Von städtebaulicher Provokation, von „Stadtzerstörung“ ist die Rede, kommt das Thema auf das große Bauwerk, neben dem gerade der neue Potsdamer Platz hochgezogen wird. Das „autonome Objekt“, monieren die Anti-Philharmoniker Fritz Neumeyer und Manfred Ortner unisono, passe nicht in den Architektur-Mainstream der Gegenwart. Weil der von geraden Straßen und baulichen Klötzchen geprägt ist, bildet der ungewöhnlich geformte Bau einen Affront, mit dem man städtebaulich einfach nicht zurechtkommt.

Nicht zuletzt deshalb steht die Philharmonie, das wohl bekannteste Konzerthaus der Republik, seit genau 35 Jahren als einsames Architekturjuwel neben anderen Kultursolitären am Kulturforum. Auch die Neue Nationalgalerie, die Staatsbibliothek und das Kunstforum liegen wie hingewürfelte Architekturen in der Mitte der Stadt, an denen zahlreiche Bauwettbewerbe zur „städtebaulichen Einbindung“ schlichtweg gescheitert sind. Derzeit braust der Baustellenverkehr vom Potsdamer Platz um das expressive Gebäude – auch Töne, die zur Philharmonie passen, nur eben schräg und in Moll.

Als Hans Scharoun vor 40 Jahren das „Pantheon der Musik“ plante und es am 15. Oktober 1963 eröffnet wurde, hat das niemand interessiert. Rund 100 Meter weiter war die Mauer hochgezogen worden, die Stadt „hatte eine Krone des organhaften Bauens“, wie der Scharoun-Schüler Edgar Wisniewski heute sagt, und drinnen dirigierte der Maestro, Herbert von Karajan, Beethovens „9. Sinfonie", daß es krachte. Architekt, Dirigent und der Regierende Bürgermeister fielen sich vor 2.200 Zuhörern in die Arme. Raum, Musik und Stadt waren eins – jedenfalls, was den Innenraum der Philharmonie anging. In der Tat bildete die Philharmonie einen gebauten Triumph, der bis dato alles Vergleichbare in den Schatten stellt. Wer die unschöne, aufschwingende Betonburg betritt, wird in einen vieleckigen Konzertsaal geführt, in dem die Sitzreihen nach allen Seiten wie in einer Arena terrassenförmig aufsteigen. In der Mitte liegt unten das tiefe Musiktal, das von einer zeltartig gewölbten Decke überdacht wird. „Gebaute Musiklandschaft“, „vollendete Architektur“ sind die Superlative des Innenraums. Daß Scharoun das Gebäude von innen nach außen geplant hat, als akustischen Raum, als Klangkörper, ist viel entscheidender: Wer in die Philharmonie geht, hört gut, ja fast perfekt, egal wie gut oder wie schlecht die Musik ist oder das Orchester spielt. Natürlich hat die Philharmonie ihre Geschichten: Etwa die, daß sich Horowitz weigerte in einem Saal Klavier zu spielen, in dem man auf in herab und nicht hinaufguckte. Oder die, daß der „Zirkus Karajan“ keine Frauen in seinen Reihen duldete. Frauen und die Meister Mozart, Brahms, Orff, Strauss, Mahler, Strawinsky – unmöglich! Oder die, als 1988 ein kleines Stück Saaldecke neben dem Dirigentenpult aufschlug. Alarm bei den Stadtvätern, Schock im Orchester und Chaos beim Publikum, weil ein Bausenator die denkmalgeschützte schwingungsfähige Decke statt in Teilen gleich ganz herausreißen lassen ließ und zudem Asbest im Foyer festgestellt worden war.

1992 wurde die Philharmonie mit Arnold Schönbergs „Gurrelieder“ unter der Leitung Claudio Abbados wieder eröffnet. Die vollständig erneuerte Decke hielt und schwang mit wie vor dem Deckensturz. Die Akustik, Stadtgespräch der Hauptstädter, hatte nicht gelitten. Lediglich die Kosten schossen ins Kraut. Statt geschätzten rund 5 Millionen Mark kostete die Renovierung des Hauses 45 Millionen Mark.

Neues Unglück droht der Philharmonie heute aber nicht nur durch Architekten, die mit einem Masterplan das Scharoun-Gelände insgesamt auf Reihe bringen wollen, sondern von den Verkehrsplanern. Weil der Autoverkehr vom nahen Potsdamer Platz künftig in einer weitgeschwungenen Kurve ins Kulturforum geführt werden soll und damit näher an die Philharmonie rückt, fürchten die Musiker um ihre Ruhe. Es sei absurd, eine derartige Straße zu bauen, regt sich der Intendant des Hauses, Elmar Weingarten, auf. „Schon jetzt hören wir beim Spielen im Kammermusiksaal das Grummeln der Straße, und nach dem Bau der Straße dürfte die Philharmonie erreicht werden.“ Der Klanggenuß des Musiktempels sei gefährdet. Zudem könnten die geplanten Tiefgaragen unter dem Konzertsaal sich als Klangkörper entpuppen und den Schall der Autos noch verstärken. Unterstützung erhält Weingarten vom Scharoun-Schüler Wisniewski, der die Straßenverlegung als „Stück aus dem Tollhaus“ bezeichnet und die Verlegung rückgängig machen will.

Und es kommt noch doller: Weil vorgesehen ist, daß eine Straßenbahnverbindung von der Leipziger Straße über den Potsdamer Platz bis ans Kulturforum geführt werden soll, fürchtet Weingarten das Schlimmste. Die Perspektive, daß dann das „Rumpeln“ bis ins Orchester zu hören wäre, würde eine Beeinträchtigung des Konzertsaals und der Musik bedeuten. Wieder eine Dissonaz mehr.