"Die Stadt läßt ihre Chancen zerrinnen"

■ Wolfram Martinsen war Vorstandschef im Ressort Verkehrstechnik bei Siemens in Berlin. Weil der Konzern Verluste eingefahren hat, wurde er vor die Tür gesetzt. Dem Senat wirft er vor, statt den öffen

taz: Als Konzernvorstand bei Siemens waren sie zwischen New York und Hongkong unterwegs, 70 Stunden pro Woche. Nach ihrer Entlassung haben Sie viel freie Zeit. Wie bekommt Ihnen das?

Wolfram Martinsen: Erstmal sehr gut. Wenn man aus so einer Tätigkeit ausscheidet, hinterläßt das ein Gefühl von Resignation. Danach kommt aber die Phase, in der man denkt: Es gibt auch ein Leben außerhalb der Arbeit.

Sie schieben keine Langeweile?

Keineswegs. Ich kümmere mich zum Beispiel intensiver um meinen Sohn.

Sie hatten bisher wenig Zeit für Ihren Sohn?

Praktisch keine. Wenn ich am Wochenende vom Vorstandsbüro in Berlin zur Familie in die Nähe von Erlangen gefahren bin, nahm ich noch Akten mit. Nun ist es eine schöne Erfahrung, mit so einem jungen Mann von 16 Jahren seine Sorgen zu teilen.

Haben Sie das vermißt?

Das schlimme ist, Sie merken das eigentlich gar nicht, wenn Sie im Job eingespannt sind. Nachmittags mit meiner Frau über die Felder spazieren zu gehen, ist ein völlig neues Erlebnis.

Warum hat Siemens Sie rausgeschmissen?

Das Unternehmen hat mich nicht rausgeschmissen. Ich übernehme die Verantwortung für einige Fehlentwicklungen.

Als Sie Ihren Rücktritt aus dem Konzernvorstand angeboten haben, gab man sich nicht die geringste Mühe, Sie zurückzuhalten.

Diese Einschätzung ist nicht falsch. Sie müssen aber sehen, daß ich für das Geschäftsjahr 1997/98 im Unternehmensbereich Verkehrstechnik, den ich leitete, mit geringeren Verlusten gerechnet hatte. Im Gegenteil sind sie jedoch gestiegen – auf ungefähr 370 Millionen Mark. Und nächstes Jahr schwarze Zahlen zu erreichen, ist entgegen meiner Prognose sehr schwierig. Also bin ich bereit, die Konsequenzen zu ziehen.

Ist Ihre erzwungene Demission nicht Ausdruck der mittlerweile üblichen Ex-und-hopp-Mentalität in den Konzernen?

Es muß nicht richtig sein, jemanden in die Wüste zu schicken. Ich hole immer gern Vergleiche aus dem Fußball. Der SC Freiburg ist abgestiegen und hat seinen Trainer trotzdem behalten. Dem hat das Management den Rücken gestärkt – in der Hoffnung, daß die Mannschaft mit ihm wieder gewinnt. Die Wirtschaft dagegen sucht sich lieber einen neuen Trainer, wenn es mal nicht funktioniert. Andererseits sollte eine derartige Trennung ein ganz normaler Vorgang sein. Der Aufsichtsratsvorsitzende, Herr Baumann, hat mich vor zwei Monaten daran erinnert, daß ich vor zwei Jahren Prognosen abgegeben habe, die nicht eingetroffen sind. Daraufhin habe ich gesagt: Ich habe das so gemeint, ich übernehme die Verantwortung, ich bin bereit niederzulegen.

Sind Sie eines der ersten prominenten Opfer der Ideologie des Share-holder-Value, die sich nun auch bei Siemens durchsetzt?

Für mich ist es fast schon eine Geschmacksfrage, ob der Wert der Aktien und damit das Vermögen der Aktionäre das Wichtigste sein muß. Ich sehe den Unternehmenszweck nicht ausschließlich darin, Profit zu machen, sondern auch darin, Arbeitsplätze zu schaffen, damit die Leute ihren Lebensunterhalt verdienen können. Aber ich möchte betonen: Die Fairneß gegenüber den anderen Mitarbeitern gebietet es, auch als Manager zurückzutreten, wenn man die selbstgesteckten Ziele nicht erreicht. Ich gehe ohne Groll.

Sie haben den Sitz des Vorstandsbereiches Verkehrstechnik von Erlangen nach Berlin geholt. Befürchten Sie, daß nach Ihrem Abgang diese Positionierung in Frage gestellt wird?

Ich trug als Vorstand zwei Hüte – einen als Chef der Verkehrstechnik und den zweiten als Vertreter des Siemens-Konzernvorstandes gegenüber dem Senat. Mein Nachfolger als Vorsitzender des Bereichs wird sich vermutlich mehr in Erlangen aufhalten als hier, während es bei mir umgekehrt war. Und wer in Zukunft die Siemens AG beim Senat vertritt, ist mir nicht bekannt. Das könnte auch ein Mitglied des Zentralvorstands aus München sein.

Läuft das auf eine Schwächung der Präsenz des Unternehmens in der Hauptstadt hinaus?

Das könnte man so interpretieren.

Kann es sein, daß Siemens die Zahl der Berliner Beschäftigten in der Verkehrstechnik in Berlin reduziert?

Berlin ist nicht gerade ein kostengünstiger Standort. Trotzdem wird es zu keiner dramatischen Verminderung der Beschäftigten kommen. Von den 1.400 Leuten müssen vielleicht 50 gehen, aber nur aus der Produktion, nicht aus der Planung und Konzeptionierung des internationalen Geschäft.

Ihr Konkurrent Adtranz will seine Fabrik in Pankow schließen. Wenn auch noch die Siemens-Zentrale wegginge, könnte der Senat seine Vision der Stadt als Zentrum der Verkehrsindustrie bald zu den Akten legen.

Die hiesigen Politiker sind dafür zum Teil selbst verantwortlich. Es sieht so aus, als würden die Chancen, die man einst hatte, allmählich zerrinnen.

An welcher Stelle tut der Senat zu wenig?

Es gibt zum Beispiel noch keine flächendeckende Parkraumbewirtschaftung für Autos. Das wäre eine Voraussetzung für die Verlagerung des Verkehrs auf die Bahn. Und der Vorstand der S-Bahn nimmt hin, daß noch immer die alten Züge aus den 40er Jahren durch die Stadt rollen. Neun Jahre sind seit dem Fall der Mauer vergangen – trotzdem wurden keine neuen, vorzeigbaren Verkehrslösungen in großem Maßstab eingeführt. Wenn man mit dem Senat redet, hört man Versprechungen, aber dann passiert nichts.

Wie sieht Ihre Vision der Verkehrsmetropole Berlin aus?

Mir schwebt eine Musterstadt des Verkehrs vor. Durch den Einsatz der Informationstechnologie könnten die Bahnen viel passagierfreundlicher fahren. Je nach Andrang würde man die Taktzeiten verkürzen oder verlängern. Moderne Informationsterminals im ganzen Stadtgebiet könnten die altmodischen Fahrpläne ersetzen und den Nutzern per Handy-Anfrage den bestmöglichen Überblick über ihre Verbindungen geben. Dann kann man es sich auch leisten, die Autos stärker aus der Stadt herauszuhalten. Und die Autofahrer, die dann immer noch in die Stadt fahren wollen, muß man abkassieren. Solche großen Lösungen wollen die Bürgermeister aus China und anderen asiatischen Ländern am funktionierenden Beispiel studieren, wenn sie nach Berlin kommen. Leider kann man ihnen wenig Fortschrittliches zeigen.

Folglich wird Berlin nicht die Metropole der Verkehrstechnik, die der Senat verspricht?

Heute ist sie es nicht. Es besteht die Gefahr, daß sie es auch nicht wird.

Damit steht ein zentraler Baustein des Industriekonzepts der Landesregierung in Frage.

Zwei der drei weltgrößten Systemhäuser für Bahntechnik, Siemens und Adtranz, sitzen in Berlin. Es gibt die Möglichkeit, Zulieferindustrien hier anzusiedeln. Das Potential wird allerdings nur dann genutzt, wenn sich ein Markt auftut. Dafür braucht es einen langfristigen Verkehrsentwicklungsplan. Die Investoren müssen wissen, wie es weitergeht.

Wo liegt Ihre persönliche Verantwortung für den Verlust der Siemens-Verkehrstechnik?

Mir ist es nicht gelungen, ein transparentes Controlling aufzubauen. Die Zahlen, die wir aus dem Unternehmen bekamen, waren zu ungenau. Deshalb haben uns die Kosten überrascht. Angesichts des schnellen Wachstums von 4.000 auf 14.000 Leute in zehn Jahren sind die anderen Funktionen, etwa das Controlling, nicht schnell genug nachgekommen. Zweitens haben wir zu wenige Manager bekommen, die den Wechsel von der Plan- zur Marktwirtschaft bei der Bahn in den Griff bekommen hätten.

Was hat sich dort geändert?

Als Staatsunternehmen hat die Bahn vorgeschrieben, wer was wie entwickeln soll. Nun beschränkt sie sich auf die Transportaufgabe und sagt: Liefert uns die Züge betriebsfähig ab. Jetzt steht Siemens unter großem Druck. In den kommenden 18 Monaten liefert das Unternehmen fünf komplett neuentwickelte Zuggenerationen aus: den ICE 3, zwei schnelle Neigezüge, eine S-Bahn für die Expo 2000 und den neuen Regionalzug. Und jetzt gibt es eine Unmenge von technischen Detailproblemen. Weder wußte Siemens vorher genau, wie man Züge entwickelt, noch war man dafür zuständig, sie zuzulassen.

Macht das Eisenbahnbundesamt Siemens Schwierigkeiten bei der Zulassung?

Manche technischen Lösungen fallen erstmal durch. Dann muß man nachbessern. Das verursacht Zusatzkosten, weil man noch unerfahren ist. Unter anderem deshalb decken die Preise, die die Bahn zahlt, die Kosten nicht.

Vor diesem Hintergrund hat die Bahn dem Konkurrenten Adtranz seine Neigetechnikzüge zurückgegeben?

Der kleine Vorteil gegenüber Adtranz ist immerhin noch, daß Siemens eine eigene Teststrecke besitzt. Adtranz hat keine und macht die Erprobung quasi bei laufendem Betrieb im Personenverkehr.

Wollen Sie sich weiter in Berlin engagieren, oder werden Sie beruflich kürzer treten?

Ich stehe für neue Aufgaben zur Verfügung, denn ich will noch etwas bewegen. Ich habe allerdings nicht die Absicht, mich wieder so einspannen und fremdbestimmen zu lassen.

Als Siemens-Vorstand waren Sie Mitherrscher über 300.000 Beschäftigte. Was heißt da fremdbestimmt?

An die Konzernspitze wird die Erwartung herangetragen, daß bei irgendwelchen Veranstaltungen immer ein Vorstand zugegen sein soll. Es ist eine zeitliche Fremdbestimmung. Interview: Hannes Koch