■ Eine Entgegnung auf die Polemik Martin Walsers gegen das Berliner Mahnmal in seiner Rede anläßlich der Verleihung des Friedenspreises
: Vom Alptraum nationalen Glücks

Die neue, die rot-grüne Republik als Vergangenheitsabwicklungsanstalt? Martin Walsers Rede anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels sowie die zustimmenden Mienen von Schäuble und Rühe, Herzog und Naumann haben eine neue Seite deutscher Geschichtspolitik aufgeschlagen. Die Berliner Republik, so wünschen keineswegs nur Konservative, soll sich unbelastet von jeder Vergangenheit der Zukunft zuwenden. Die Auseinandersetzung mit einer nach wie vor wirksamen Vergangenheit soll dorthin entsorgt werden, wo sie endgelagert werden kann: ins individuelle Gewissen.

In seiner ironisch-zerquälten Sonntagsrede forderte der Preisträger nicht weniger als das Ende der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Walsers unter Berufung auf das individuelle Gewissen daherkommender Polemik gegen das Berliner Mahnmal ist zu widersprechen: „...eine rein weltliche, eine liberale, eine vom religiösen, eine überhaupt von allem Ich-Überschreitenden fliehende Gesellschaft kann Auschwitz nur verdrängen. Wo Ich das höchste ist, kann man Schuld nur verdrängen. Aufnehmen, behalten und tragen kann man nur miteinander.“ So Walser selbst 1979 in einem Band „Zur geistigen Situation der Zeit“. Nun läßt sich kaum etwas Ich-Überschreitenderes als ein ins Zentrum der Hauptstadt eingelassenes Mahnmal an die Opfer des Holocaust denken. Was spricht 1998 gegen ein öffentliches Eingedenken, das knapp 20 Jahre zuvor so dringlich schien? Wo ist umgekehrt das Ich stärker auf sich zurückgeworfen als im individuellen, stumm bleibenden Gewissen?

Des Rätsels Lösung liegt nicht nur in Walsers Nationalismus, sondern vor allem in einem tiefgreifenden Mißverständnis des geplanten Mahnmals. Im entschlossenen Willen, Schuld und Gewissen zu verwinden, offenbart Walser nicht nur mangelndes begriffliches Unterscheidungsvermögen, sondern verfehlt eben jene religiöse Dimension, die ihm vor 20 Jahren noch gegenwärtig war. Wenn es richtig ist, daß Schuld in der Tat etwas unvertretbar Individuelles ist, dann haben er und seine Generation keine Schuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus.

Der Gedanke einer Kollektivschuld war und ist widersinnig. Nicht widersinnig hingegen ist der Gedanke einer kollektiven Scham. Indem Walser die nach wie vor heftige Debatte über Voraussetzungen, Ausmaß und Folgen des deutschen Mords an den europäischen Juden nur als einen Diskurs über Schuld versteht, unterschlägt er die Scham und ihre produktive Kraft. Scham ist im Unterschied zu Schuld nicht individualisierbar. Gerade weil es bei der Scham nicht um moralische Zurechnung verbrecherischen Handelns, sondern um das Bewußtsein, einem historischen und politischen Gemeinwesen anzugehören, geht, vermag sie die Schuld von Millionen einzelnen zwar nicht zu tilgen, aber doch durch tätiges Handeln zu erhellen. Weil Walser das in seiner Ich-Bornierung und der ihr entsprechenden Sehnsucht nach nationalem Glück nicht versteht, vermag er Eisenmans Mahnmal auch nur als Schandmal, als Alptraum zu sehen.

Dabei steht außer Frage, daß jedes Mahnmal auch die Schande der „Weltkriegsgeneration“ bezeugen wird. Jede Nennung von Opfern als Opfer verweist auf die Täter. Daß der Zweck dieses Mahn- und Denkmals jedoch vor allem darin besteht, jenen Millionen ermordeten Menschen mindestens Respekt zu erweisen und ihnen in der Mitte der Bürgerschaft einen Ort einzuräumen, ist dem von Deutschland besessenen Dichter fremd. Das, was die Theologie „erinnernde Solidarität“ nennt, ist ihm nicht einmal ein Wort wert. Solidarisch ist dieser Preisträger allenfalls mit seinen Volksgenossen – heute ein verurteilter DDR- Spion, gestern vielleicht ein überlebender Jude mit deutschem Paß – Victor Klemperer. Daß die meisten Opfer der Nationalsozialisten weder einen deutschen Paß hatten noch überlebten, entgeht seinem verengten Blick. Damit steht Walser nicht alleine. Gerade wenn gegen das Mahnmal immer wieder die Bewahrung der so genannten authentischen Orte, der Konzentrationslager, beschworen wird, gilt doch, daß die Vernichtungslager nicht in Deutschland lagen.

Auch die Politik des Gedenkens ist Politik. Es war die Unzufriedenheit mit der Regierungspolitik der Ära Kohl, die sich in Kritik am notwendig trivialen Alltag des Parlamentarismus entladen und in ihm das Wesen aller Politik gesehen hat. Dabei kann politisches, vor allem parlamentarisches Handeln zu Sternstunden werden – nämlich dann, wenn Fragen des gemeinsamen Selbstverständnisses öffentlich erörtert und gewissenhaft entschieden werden. Gerhard Schröder hat vor der Wahl versprochen, die von Helmut Kohl hinausgezögerte Entscheidung dorthin zu geben, wohin sie gehört, in die Repräsentanz des Souveräns, den Bundestag. Nur noch das frei gewählte deutsche Parlament kann die Frage, ob das von Eisenman geplante Mahnmal gebaut wird, entscheiden und nicht nur, wie schon einmal, unverbindlich beraten.

Die Argumente liegen auf dem Tisch, die ästhetischen, historischen und politischen Gründe sind pro und contra entfaltet. Was noch fehlt, ist eine parlamentarische Debatte und dann die Entscheidung. Fraktionszwang und parteipolitisches Taktieren sind dabei ausgeschlossen. Die Abgeordneten des deutschen Volkes werden sich – wie es das Grundgesetz will – ihrem Gewissen verpflichten und – anders als Walser sich das vorstelen kann – diesem Gewissen auch öffentlich Ausdruck geben. So unsinnig es wäre, bei jeder Alltagsentscheidung gleich das Gewissen anzurufen, so sehr gehört es doch zur Demokratie, bei wesentlichen Entscheidungen den eigenen Überzeugungen Worte zu verleihen. Eine Bürgerschaft, in der die Artikulation der tiefsten Überzeugungen lediglich wenigen Dichtern vorbehalten bliebe, wäre vielleicht eine Mehrheitsbeschaffungsmaschine, aber keine Republik.

Die Debatte um das Mahnmal wird jene Auseinandersetzung sein, in der die ethischen Grundlagen der Berliner Republik gelegt und ihre moralischen Koordinaten gerichtet werden. Die künftige Regierungskoalition sollte sich während ihrer Verhandlungen auf einen Zeitpunkt für die Debatte verständigen und ihn nicht hinausschieben. Nach der Abstimmung werden wir wissen, ob das erstrebte Glück nationaler Zusammengehörigkeit oder die Klarheit historischer Verantwortung zum Leitstern der Republik wird. Sie würde ihren Namen auch nach diesem Mahnmal tragen. Micha Brumlik