Bunter Kitsch und fromme Lügen

■ Die Liebe überwindet alles, leider auch den Inhalt: „I Was Looking At The Ceiling And Then I Saw The Sky“ als Gastspiel im Thalia Theater

Politische und gesellschaftliche Basisprobleme taugen einfach nicht zum Stoff von Musicals. Das ist ein wenig so, als wenn man am Skelett eines Menschen die Muskeln eines Affen befestigen möchte. Das Resultat kann im besten Fall Groteske oder Rührung sein, im gemeinen Fall aber versagt eine derartige Operation ein anderes Resultat als schreckliche Zuckungen im Todeskampf von Form und Inhalt. Beweglichkeit und Gerüst eliminiert die gleiche ungeschickte Idee, die Großes will, wo Kleines zählt. Klassiker dieses Genres, wie die West Side Story oder Porgy und Bess widersprechen dieser Behauptung höchstens in ihrer Filmform, wo Szenerie und Ausstattung einen dokumentarischen Anstrich geben können, dessen Fehlen im Theater dem Phantom einer Idee die letzte Orientierung raubt.

Das kalifornische Trio Peter Sellars (Regisseur), John Adams (Komponist) und June Jordan (Librettistin) hat in seiner L.A.-Erdbeben-Romanze I Was Looking At The Ceiling And Then I Saw The Sky, die am Samstag im Thalia Theater Gastspiel-Premiere hatte, beispielhaft vorgemacht, wie man – wenn man etwas schaffen möchte, „das ganz und gar glaubwürdig ist“ (Jordan), und dafür das Musical wählt – alle Dämme gegen Klischees durchsticht. Eine Ansammlung von Soziostereotypen versammelt sich in diesem Stück, wie es der Schulaufsatz eines christlich erzogenen Teenagers aus einer weißen amerikanischen Provinzstadt nicht hätte besser machen können. Der Gangboß, der doch so gerne gut sein möchte, aber durch die bösen, bösen Umstände und die eigene Naivität mit lebenslangem Gefängnis wegen des Diebstahls von zwei Flaschen Bier bedroht wird, erkennt durch das Erdbeben, das ihn aus dem Gefängnis befreit, daß Freiheit eine Frage der Einstellung ist und ganz unabhängig von der Wirklichkeit. Ein weißer Polizist muß natürlich ebenso seine Homosexualität verleugnen, wie ein Vietnamese, der sich vom Boat-People zum Rechtsanwalt hochgearbeitet hat, mit der „Wie könnt ihr bloß?“-Attitüde durch die Welt rennt. Und die Frauen wollen nur von einem strammen Bock geliebt werden und müssen demonstrieren, daß Klassen- und Rassenbewußtsein dasselbe sind. Die weiße Frau, Reporterin beim Reality-Fernsehen, als Symbol der verderblichen Medien, die schwarze als Ghetto-Engel, der beweisen soll, daß nur Bildung der schwarzen Gemeinschaft hilft.

Das verbindende Element, das durch die göttliche Sendung der Naturkatastrophe schließlich erkannt und in Form einer christlichen Heilsbotschaft zur positiven Kraft des „Wir sind doch alle gleich“ gewendet wird, ist die Einsamkeit. In Szenen allgemeiner Umarmung, die den Kitschhärtegrad 10 erreichen, werden im Finale alle Klassen-, Rassen- und sonstigen Gegensätze im guten Willen zur Liebe disneyhaft einfach abgeschafft.

All diese frommen Lügen über die bedingungslose Liebe als Überwinder gesellschaftlicher Konflikte dienen hier in geradezu schmerzlicher Art und Weise zur Verhaustierisierung von sozialem Sprengstoff. Und in diesem Ersatz von Erkenntnis und Erklärung gesellschaftlicher Bedingungen von Gewalt und Unrecht durch christliche „Come Together“-Arien erfüllt dieses Musical alle Erwartungen an US-amerikanische Mittelstandspropaganda.

Aus der Perspektive der Sättigung wird den Parias eines knallharten Interessenssystems das „Wer will, der kann!“ vorgehalten. Das passiert, wenn guter Wille und nicht intellektuelle Abstraktion am Theater regieren. Daß Peter Sellars nachweislich auch anders kann, mag man nach Ansicht dieser Schmonzette kaum glauben.

Zur Verseifung des Themas paßt dann auch John Adams' beliebiges akademisches Potpourri aus populären Musikstilen. Von Frank Zappa über BeBop zu Rap werden gerade jene Musikstile entschärft und zu einer hybriden Melodiesoße verquirlt, die im Original musikalische Klasse mit grundsätzlichen Positionen verbinden konnten. In diesem Musical sind sie der Sumpf, in dem ein Thema versinkt und Blasen aus Betroffenheitslyrik, Sozialkitsch und politischer Arglosigkeit aufsteigen. Welch bunter Alptraum.

Till Briegleb