Cooles Reiben des Bauches

Mit Einfühlung, aber jenseits des Einfühlungstheaters. Thomas Ostermeiers Inszenierung von Enda Walshs „Disco Pigs“ im Deutschen Schauspielhaus Hamburg  ■ Von Petra Kohse

Auf dem Land sieht man tagsüber vielleicht nur Kühe. Aber nachts leuchten die Sterne, und man kann sich was träumen, wenn man zu zweit ist. Zum Beispiel einen Besuch in einer coolen Disco. Und daß man den Knaben vom Getränkemarkt Clockwork-Orange-mäßig fertigmacht, wenn der für den Bacardi Geld verlangt. Und danach im Taxi ans Meer fährt. Alles, was nicht wirklich geht – schon gar nicht im irischen Cork, wenn man siebzehn ist und als einzige Vergnügung auf die Karaoke-Abende der Sinn Féin angewiesen ist. Mit nationalem Liedgut – oh, Danny Boy...

Der 31jährige Ire Enda Walsh hat in seinem Stück „Disco Pigs“ die definitive Jugendhölle beschrieben. Die Art Hölle, die scheinbar die anderen sind und das, was alles fehlt. Und die Art Stück, in dem man letztlich eben doch nicht weiß, was wirklich ist und was nicht. Kein Brit-Theater im Sinne eines post-thatcheristischen Problemzonen-Boulevards, sondern eher ein rätselhaftes Volksstück. Wie Kroetz auf irisch, aber doch reine Sprache und vor allem: nicht vorwurfsvoll.

Mit dem Theater Corcadorca in Cork City hat Walsh das Stück unter der Regie von Pat Kiernan vor zwei Jahren herausgebracht, die Inszenierung wurde im Juni in Bonn und im September in Berlin als Offenbarung kunstvoller Zeitdramatik begeistert gefeiert. Das Berliner Gastspiel fand in der Baracke des Deutschen Theaters statt, und der 30jährige Baracken- Chef Ostermeier, designierter künstlerischer Leiter der Schaubühne, inszenierte jetzt als Koproduktion mit dem Deutschen Schauspielhaus im Hamburger Malersaal die deutsche Erstaufführung. Soviel zum Spektakelwert.

Deutsche Erstaufführung – das sagt sich so leicht. Ian Galbraith hat die Szenen, die sich Runt und Pig gegenseitig ausmalen, zunächst ins Hochdeutsche übersetzt: „Ich parke mich auf den Hocker neben den Billardtisch, schalte ab und schaue zu!“ Passender aber scheint ihm: „Ich park mich auf den Hocker neb'n'd Billard un' klick auf Ruh un kuck zu un' werde cool.“ Fränkischer Kunstdialekt, vermischt mit aufgeregtem Kleinkindsprech („Ich dein bitti Baby“) – das ist wohl eine recht genaue Entsprechung für einen Text, in dem sich die Protagonisten in „Pork Sity“ wähnen. In Schweinfurt. Weil Runt aber am Ende erkennt, daß die 17jährige Symbiose mit Pig erst der Anfang ihres Lebens ist und Pork Sity im richtigen Leben Cork City heißt, ist es auch okay, auf das Fränkische zu verzichten, wie es die Fassung der Baracke tut. Bibiana Beglau als Mücker (Runt: das kleinste Ferkel im Wurf) und Marc Hosemann als Schwein treiben einen hektischen Großstadtkids- Slang vor sich her, der so verloren wie angeschafft klingt und deswegen genau richtig ist.

Denn Thomas Ostermeiers Inszenierung, die der irischen in Tempo und Szenerie auf den ersten Blick erstaunlich ähnelt, stellt den Kunstcharakter dieses Bonnie-&-Clyde-Pärchens der Pubertät stärker heraus. Nicht in einem abgezirkelten Viereck stehen die zwei Stühle, die hier wie dort das einzige Mobiliar sind, sondern auf und vor einer weißen Leinwand, die die beiden dem Publikum als Exponate ironisch entgegenkippt. Auch Jörg Gollasch, der am Schlagwerk und als Geräuschemacher live auf das Spiel reagiert, zeigt: It's Showtime, folks! Und dazu kommen Beglau und Hosemann im Hechtsprung auf die Bühne, als wär's im Varieté.

Daß dieses Level über die einstündige Dauer der Inszenierung nicht gehalten wird, ist schade und auch nicht nur die Schuld des Publikums, das mit recht ernsten Gesichtern sitzt und guckt. Sondern auch Bibiana Beglau (Einar Schleefs Salome in Düsseldorf) und Marc Hosemann lispeln, trampeln, hüpfen und kreischen anfangs so anstrengend jungkumpelhaft, daß man für sich selbst mit den fälligen Merzdragees inneren Frieden schließt.

Trotzdem: gut gespielt. Sportlich und präsent, mit coolem Reiben des Bauches im Microfasertop überm Wildlederrock und ordentlichem Schwitzen im weißen Hemd über der Anzughose. Aber eben auch doof in der Überbetonung des Pseudo-Authentischen. Interessant wird es erst, als Mücker sich im ruhigeren Ton zu emanzipieren beginnt. Von Freundinnen träumt und einem Mann, der Komplimente macht. Derweil Schwein noch immer Pork Sity in die Luft sprengen will, mit Ausnahme ihrer beider Zimmer und des Disco-Palasts. „Der Disco-Palast ist ein Traum, Schwein“, sagt Mücker da sanft, und das ist wirklich traurig. Aber auch voll Hoffnung.

Ostermeier ist ein Künstler der Einfühlung, ohne Einfühlungstheater zu machen. Er zeigt vor, ohne etwas besser zu wissen. Schnell, gut und effektsicher setzt er Stücke auf der Bühne um. Und nimmt sich dabei dezidiert gesellschaftskritische Stücke vor. Stücke, die von Außenseitern handeln, von Scheiternden oder vom Scheitern Bedrohten. Ein Regisseur der Berliner Republik, wie sie sich bis jetzt darstellt. Problembewußt und souverän. Wenn das jetzt nicht zu früh geschlossen ist. Es ist ja noch alles offen. Mit Ostermeier wie auch der Berliner Republik.

Heute und am 7. und 8. November um 20 Uhr, Schauspielhaus Hamburg. Ab 13.11. wieder in der Baracke des Deutschen Theaters