Promisker Sturkopp

Gemeinhin kennt man ihn nur plattgefahren – den Igel. Doch über das Modernisierungsopfer gibt es auch Erfreuliches zu berichten. Etwa über seinen Imagewandel: Früher galt der Igel als Bösewicht, heute trotz seiner Stacheln als Knuddeltier. Ein Portrait  ■ Von Heide Platen

Stacheln überall, keine weiche Stelle zum Anfassen, kein Henkel dran, aber Hilfe vonnöten. Sie schreit und kreischt: „Schnell, schnell, eine Schaufel!“ Zu spät, schon ist wieder einer mit 120 Sachen in der Kurve plattgefahren worden. Pech gehabt, der Igel, ebenso wie Abertausende seiner Artgenossen, die jährlich in der Bundesrepublik zu Verkehrsopfern werden. Den nächsten Todeskandidaten befördert die Igelfreundin schlicht mit kräftigen Tritten an den Straßenrand.

Menschen lieben Igel. Und führen damit die Verhaltensforscher ad absurdum. Deren Kriterien für überbordene Ach- wie-süß-Begeisterung messen sich in der Regel an der flauschigen Streichelbarkeit der Mitgeschöpfe. Oder an der Menschenähnlichkeit des Getiers, als da sind: aufrecht auf den Hinterbacken sitzen zu können, die Vorderpfoten fingerähnlich zu benutzen und sich possierlich zu putzen. Und das Alter ego Papagei kann wenigstens sprechen und gilt als klug und monogam.

Nichts davon trifft auf die Igel zu. Die Wappentiere zahlreicher Tier- und Umweltfreunde sind ziemlich archaische, primitive, insektenfressende Säugetiere (Erinaceidae) der Kreidezeit, von denen einige Arten ihre Haare zu Stacheln modifizierten und deshalb als Echte Igel (Erinaceinae) gelten. Sie sind nur sehr begrenzt lernfähig, promisk und, genau betrachtet, rabiat, stur und ungeschickt. Der Igel ist weder kuschelig, noch kann er sich auf die Hinterpfoten setzen, die vorderen Gliedmaßen sind nur zum Graben und Laufen geeignet.

Zudem hat er einige ausgesprochen unappetitliche Eigenschaften. Sein lockeres Stachelkleid sitzt außen voller Flöhe, Zecken und sonstigen Parasiten, inwendig hat er Würmer. Seine schwarze Schnüffelnase trieft auf der Suche nach Käfern, Larven und Schnecken ständig vor sich hin. Der Igel schmatzt beim Fressen, und er praktiziert Selbstbespeichelung: Er kaut intensiv duftende Fundstücke, zum Beispiel Leder, kräftig durch und besabbert sich anschließend gründlich von oben bis unten. Dumme Angewohnheit, denn auch das kostete Igel früher oft das Leben, weil die Speichelei als Tollwut mißdeutet wurde.

Igel gelten erst in jüngster Zeit, spätestens seit der Erfindung von Mecky, als niedlich. Grund dafür seien vor allem, sagen Befragte, die Knopfaugen, die schwarze Stupsnase und das Bärchengesicht. Eben dieses Gesicht machte es, daß Westeuropa lange Zeit als die Heimat von zwei Igelarten galt: Schweinsigel, norddeutsch: Swinegel, und Hundsigel. Tatsächlich gibt es nur Farb- und Größenvarianten. Der Braunbrust- oder Westigel (Erinaceus europaeus) verändert aber sein Aussehen je nach Körperhaltung: Mit angriffslustig aufgerichteten Stirnstacheln wirkt seine Schnauze kurz und stumpf wie bei einem Schweinchen, bei friedlicher Futtersuche sieht sie spitzer und länger aus. Der westeuropäische Igel ist von seinem östlichen Artgenossen leicht zu unterscheiden, weil er einen dunklen Fleck auf seiner braunen Brust trägt.

Die osteuropäischen Vettern haben einen weißen Latz. Ob die unterschiedliche Färbung ausreicht, um von zwei Arten zu sprechen, darüber streiten die Gelehrten noch. An der Ostküste Spaniens und in Südfrankreich lebt außerdem der Algerische Igel, ein Einwanderer aus Afrika, der kleiner und heller gefärbt ist als die beiden Europäer, mit längeren Beinen und größeren Ohren.

England, einst Feindesland für die Igel, ist in den letzten zwanzig Jahren zur Hochburg der Igelfans geworden. Hier entstanden die ersten Schutzprogramme für „Hedgehog“, das Heckenschwein, und die ersten Igelkliniken und Aufnahmestationen für die Septemberwaisen, unterernährte Jungigel mit zuwenig Speck auf den Rippen für den langen Winterschlaf. Da, wo jedes Home ein Castle ist, ist die kleine wandelnde Festung mittlerweile sinnbildlicher Sympathieträger der individualistischen Inselmentalität geworden, uneinnehmbar für die meisten Freßfeinde.

Der Igel klemmt seinen Kopf bei Gefahr einfach an das Schwanzende, ein dicker Muskelring unter der Rückenhaut zieht sich zusammen wie ein Wäschesack, und die stachelige Kugel ist weder für Fuchs noch für Dachs zu knacken. Diese erfolgreiche Defensivstrategie, mit der er sich entwicklungsgeschichtlich um Feinde kaum scheren mußte, ist heutzutage auf der Autobahn sein Verhängnis. Tödlich sind für ihn außerdem Rasenmäher, Mähdrescher und Kleingärtner, die den Rasen mähen, Reisighaufen verbrennen, Schneckenvertilgungsmittel ausstreuen und damit ihrem genuinen Verbündeten den Garaus machen.

Auch sonst stolpert der Igel vorwiegend in menschengemachte Todesfallen. Igel lassen sich bei Gefahr, zusammengerollt als gut abgefederte Kugel, in Gartenteiche, Baugruben und Kellerschächte plumpsen, aus denen sie dann nicht mehr herauskommen können.

Der britische Igelpapst Les Stocker staunte noch 1987 über das Unwissen seiner Landsleute über den Igel, der schon in der Steinzeit gegessen wurde, später auch als Fastenspeise, Heilmittel und als wetterkundiges Tier galt. Römische Weber bürsteten ihre Wolle mit Igelfellen glatt, und englische Reiter benutzten sein hartes, getrocknetes Stachelkleid, um Pferde über Hindernisse zu treiben.

Igel, deren ursprünglicher englischer Name „Urchone“ einem bösen Kobold entlehnt war, wurden bis in die achtziger Jahre hinein gnadenlos verfolgt. Sie galten seit dem Mittelalter als schädliche Hexentiere, gleichgestellt mit Molchen, Kröten und Schlangen. Für ihre Tötung waren hohe Prämien ausgesetzt. Geistliche nagelten die Tiere an die Kirchentüren. Der Engländer Lewis Carroll sprang 1865 mit den Igeln auch nicht gerade liebevoll um. Im Kinderklassiker „Alice im Wunderland“ sind die Stachelkugeln die höchst unzulänglichen Krocketbälle im Spiel der bösen Kartenkönigin.

Der Igel, weltweit mit elf Arten verbreitet, galt in Europa bis in die letzten Jahrzehnte als arger Bösewicht, der Hühnereier stiehlt und Milch aus Kuheutern saugt, Kaninchen und Hasen auffrißt und Obstgärten plündert, indem er die Früchte auf seinen Stacheln abtransportiert und im Winterlager hortet. Igel, behauptete schon der römische Naturforscher Plinius, wälzen sich in Äpfeln oder Trauben, bis diese auf dem Rücken feststecken.

Diese Beschreibung schleppte sich jahrhundertelang fort, ist aber nie beobachtet worden und wäre auch unsinnig, denn Igel sind keine Vegetarier. Pflanzen geraten höchstens versehentlich in ihren Magen. Sie legen auch keine Wintervorräte an, sondern fressen sich eine dicke Speckschicht an, ehe sie in einen echten Winterschlaf fallen, bei dem die Körpertemperatur bis auf 1,3 Grad Celsius sinken kann. Igel reagieren dabei wie kleine Heizkraftwerke. Wird der Körper im ausgepolsterten Winternest zu kalt, heizt ihn eine durch das Fett gespeiste Sparflamme vorsichtig wieder auf fünf bis sechs Grad auf. Deshalb ist es für winterstarre Igel tödlich, wenn wohlmeinende Menschen sie im Winterschlaf stören und ihre steifen Körper aufwärmen wollen.

Auch zum Eierdieb taugt der Igel nicht so recht. Sein Mäulchen ist viel zu klein zum Eierknacken. Gefährlich kann er höchstens Gelegen und Jungvögeln kleinerer Bodenbrüter werden. Er frißt Aas. Aber auch als nützliches Tier, als legendärer Mäusejäger, ist er eher eine viel zu plumpe, weil langsame Fehlbesetzung. Als nützlich erweist er sich nur bei der Käfer- und Schneckenjagd. Auf Londoner Märkten wurde er deshalb früher an kakerlakengeplagte Hausbesitzer verkauft, die ihn als Kellerigel hielten.

Igel sind erstaunlich resistent, giftige Käfer, Bienen und Wespen schaden ihnen nicht. Allegorische Darstellungen, in denen der tapfere Ritter im Stachelkleid die böse Schlange geschickt wie ein Mungo besiegt, gehören allerdings ins Reich der Fabel. Igel, die auch größere Tiere angreifen, verlassen sich auf ihre Stacheln und rumpeln so plump voran wie Dampfwalzen. Das Gift der Kreuzotter macht auch Igel krank. Allerdings vertragen sie davon gehörig mehr als andere Säugetiere.

Englische Siedler brachten den Igel, dessen fünf Gattungen auf allen Kontinenten außer dem amerikanischen und dem australischen vorkommen, auch nach Neuseeland. Igel sind standorttreue Einzelgänger, die nachts ein relativ festes Areal nach Nahrung absuchen, aber kein Revier verteidigen. Begegnen sich zwei Artgenossen, schubsen sie sich mit ihren über der Stirn aufgestellten Stacheln wie Boxer, rempeln sich eine Weile lang an und gehen dann wieder ihrer Wege. Die Begattung ist kurz und, ehe die Igelin ihn läßt, mit viel Lärm, Gerenne und Geschnaufe verbunden. Wie sie bei den Stacheltieren vor sich geht, darüber spekulierten die Menschen lange. Bis in dieses Jahrhundert vermuteten Naturforscher, sie sei wohl nur Bauch an Bauch zu bewerkstelligen. Erst 1948 dokumentierte ein Forscher die Igelhochzeit. Die Igelin legt die Stacheln an, breitet die Hinterbeine aus, und dann paaren sich Igel und Igelin, wie fast alle anderen Säugetiere auch, von hinten.

Das Ergebnis sind winzige blinde, hellrosa Junge, deren weiße Stacheln bei der Geburt praktischerweise noch in die Haut eingebettet sind. Erst später färbt das Haarkleid sich dunkel, und die Stacheln richten sich auf. Sie werden schon nach fünf bis acht Wochen von der Mutter vertrieben, müssen schnell selbständig werden und fressenfressenfressen, um das für den Winterschlaf notwendige Überlebensgewicht zu erreichen. Bis in den September hinein spätgeborene Junge mit einem Gewicht unter siebenhundert bis achthundert Gramm haben eigentlich keine Chance, sie sind „Septemberwaisen“ und werden gerne von Menschen eingesammelt und aufgefüttert.

Über den Sinn solchen Tuns streiten Igelanhänger und Wissenschaftler seit Jahren. Die einen richten Igelstationen für unterernährte, kranke und bei Unfällen verletzte Tiere ein und pflegen sie, was die Speisekammer hergibt. Das Naturschutzgesetz, das das Fangen von Igeln ganzjährig verbietet, macht in solchen Fällen eine Ausnahme. Die anderen meinen, daß wieder in Freiheit gesetzte Tiere nur schlechte Überlebenschancen hätten, Igel schließlich nicht vom Aussterben bedroht seien und mensch das Wildtier samt seinen 7.500 bis 8.000 Stacheln gefälligst in Ruhe lassen solle.

Literatur in der Bücherei: Les Stocker – Das große Buch der Igel. Bergisch Gladbach, 1989; Pat Morris – Alles über Igel. Rüschlikon-Zürich, 1984