SPD stützt die Große Koalition

Die Regierungskrise in Berlin führt nur zu Neuwahlen, wenn der Regierende Bürgermeister Diepgen das Personalchaos in der CDU nicht in den Griff bekommt  ■ Von Dorothee Winden

Im Auge des Orkans herrscht angespannte, verdächtige Stille. Doch in der Parlamentssitzung inmitten der schweren Regierungskrise der Berliner Großen Koalition herrscht nur die übliche Routine. Dabei ist gar nichts mehr, wie es einmal war.

Die Berliner CDU ist von ihrer schwersten Krise in der Nachkriegszeit erfaßt worden, ausgelöst durch das katastrophale Ergebnis bei der Bundestagswahl: Nicht mehr als vernichtende 23 Prozent hat die CDU in Hauptstadt erzielt. Zwei Wochen dauerte es, bis die Brüchigkeit der CDU zutage trat und die rapiden Auflösungserscheinungen den Koalitionspartner SPD nach Neuwahlen rufen ließen.

Zuerst ging der amtsmüde Wirtschaftssenator Elmar Pieroth (CDU) von Bord. Nach 16 Jahren als Senator hatte er schon vor einem Jahr signalisiert, daß er sein Amt gern aufgeben würde. Doch der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) fand keinen Nachfolger. Pieroth mußte bleiben. Jetzt konnte ihn Diepgen nicht mehr halten, einen Nachfolger hat er immer noch nicht. Da das Parlament auch für die ins Schröder-Kabinett wechselnde SPD-Arbeitssenatorin Christine Bergmann einen Nachfolger wählen muß, wäre es nur zur Nachwahl von zwei Senatoren gekommen. Nichts Außergewöhnliches.

Doch dann brachte ausgerechnet der Mann, der die Innere Sicherheit der Stadt schützen soll, Innensenator Jörg Schönbohm (CDU), alles ins Wanken. Seine Ankündigung, in Brandenburg als CDU-Parteichef aushelfen zu wollen und dort im nächsten Jahr als Spitzenkandidat in den Landtagswahlkampf zu ziehen, schlug ein wie eine Bombe. Der ehemalige General, dem es an Gespür für die Feinheiten des politischen Geschäfts mangelt, hatte sich ins Abseits katapultiert, denn ein Amt in Brandenburg galt auch der Berliner CDU als nicht kompatibel mit den Pflichten eines Innensenators. Schönbohm hat noch eine Woche Bedenkzeit, doch sein Abgang gilt als sicher.

Zusätzliche Unruhe löste die unfähige Gesundheitssenatorin Beate Hübner (CDU) aus, die ihren Widersacher, den Staatssekretär Detlef Orwat (CDU), absägte und plötzlich selbst zur Disposition stand. Schließlich geriet auch der Verkehrssenator Jürgen Klemann (CDU) wegen Unfähigkeit innerparteilich in die Kritik. Der Regierende Bürgermeister Diepgen schien nicht mehr Herr der Lage zu sein, verkündete jedoch, der Senat stehe wie ein Fels in der Brandung. Was den bündnisgrünen Abgeordneten Wolfgang Wieland assoziieren ließ, der Senat gleiche dem Affenfelsen von Gibraltar.

Die SPD forderte angesichts der rapiden Zerfallserscheinungen Mitte der Woche Neuwahlen. SPD-Vize Klaus-Uwe Benneter wurde mit der Forderung vorgeschickt, doch auch SPD-Fraktionschef Klaus Böger, der als Garant der Großen Koalition gilt, drohte: Wenn Diepgen am 12. November keine akzeptablen Nachfolger präsentieren könne, dann könne es zu Neuwahlen kommen. Die Senatoren werden nämlich nicht vom Regierenden Bürgermeister ernannt, sondern vom Parlament gewählt. Falls die CDU-Senatoren keine Mehrheit erhalten würden, wäre der Weg für Neuwahlen frei. Allerdings müßte das Parlament zuerst seine Auflösung und vorgezogene Neuwahlen beschließen, und ohne die CDU-Abgeordneten kommt die dafür erforderliche Zweidrittelmehrheit nicht zustande.

Wirklich ernst ist es jedoch der SPD mit der Drohung nicht, vielmehr sollte der Koalitionspartner unter Zeitdruck gesetzt werden. Die SPD will bei der Parlamentssitzung am 12. November den Senat komplettieren, so das Ultimatum. Nur falls Diepgen das CDU- Personalchaos nicht in den Griff bekommt, könnte es tatsächlich zu Neuwahlen kommen. Die SPD befürchtet zu Recht, daß die Wähler es ihr verübeln könnten, wenn sie die Koalition aufkündigt. Um bei den Neuwahlen nicht mit Stimmenverlusten abgestraft zu werden, sind die Sozialdemokraten sorgsam darauf bedacht, daß ein Scheitern auch in der Öffentlichkeit allein auf das Konto der CDU geht.

Dennoch ist die Zögerlichkeit der SPD merkwürdig. Von der Aufbruchsstimmung, die von rot- grünen Koalitionsverhandlungen in Bonn ausgeht, ist nichts zu spüren in Berlin. Dabei ist das Ergebnis der Bundestagswahl auch für Berlin ermutigend. Seitdem erscheint eine eigenständige Mehrheit für Rot-Grün in der Hauptstadt nicht mehr außer Reichweite. Die lähmende Aussicht, daß es nach Wahlen zum dritten Mal eine Große Koalition gibt, weil eine von der PDS tolerierte rot-grüne Regierung in Berlin undenkbar ist, ist seit der Bundestagswahl der Zuversicht gewichen, daß es auch in Berlin für Rot-Grün reichen könnte.

Erklärbar ist das Zögern der SPD damit, daß sie sich nach acht Jahren in der Großen Koalition mental „eingerichtet“ hat, so mühselig die Einigung der Koalitionspartner oft war. Hinzu kommt, daß die SPD noch zwei Vorhaben durchbringen will, die sie so nur in der Großen Koalition verwirklichen kann: die Teilprivatisierung der Berliner Wasserbetriebe und die Einrichtung eines Liegenschaftsfonds, in den landeseigene Grundstücke im Milliardenwert zur Reduzierung der Haushaltsschulden eingebracht werden. Beides stößt bei den Grünen auf Kritik und wäre in einem rot-grünen Bündnis in Frage gestellt.

Da können die Grünen die SPD beschwören, wie sie wollen, die Gunst der Stunde zu nutzen, die SPD hält in preußischer Pflichterfüllung an der Koalition fest. „Man kann den Mantel der Geschichte ergreifen oder vorüberziehen lassen“, warnte der bündnisgrüne Abgeordnete Wolfgang Wieland, „aber dann darf man sich nicht wundern, wenn es zieht.“ An die Adresse des SPD-Fraktionschefs Klaus Böger sagte er im Parlament: „Die Macht liegt auf der Straße, und sie suchen immer noch nach den Startblöcken.“

Da die SPD trotz Ruf nach Neuwahlen de facto die Koalition stabilisiert, verlief die Parlamentssitzung am Donnerstag nicht so turbulent, wie manche erwartet hatten. Zwar war die Nervosität der CDU-Führung deutlich zu spüren, doch nachdem in den letzten Tagen alles ins Gleiten gekommen war, war der Erdrutsch erst einmal aufgehalten.

Als das Parlament auf Antrag der Opposition doch 20 Minuten über die Regierungskrise sprach, zelebrierte die SPD den Schulterschluß mit dem Koalitionspartner. Der frischgebackene Bundestagsabgeordnete Ditmar Staffelt ließ in seiner Abschiedsrede die ungeliebte Große Koalition in recht mildem Licht erscheinen: „Vorgezogene Neuwahlen sind jetzt nicht im Interesse dieser Stadt.“ Doch deutlich wurde auch, daß es für Innensenator Schönbohm kein Zurück mehr gibt, auch wenn er erst in einer Woche offiziell bekanntgeben will, ob er sich für Berlin oder für Brandenburg entscheidet. Als Staffelt rügte, daß Schönbohm den Regierenden Bürgermeister nicht von seinen Überlegungen informierte, bevor Diepgen die Nachricht der Presse entnehmen mußte, kam Applaus auch von CDU-Abgeordneten. „Was Sie gemacht haben, war hochgradig unprofessionell“, schimpfte Staffelt. „Das hat der Stadt geschadet.“

Und auch dafür gab es wieder Beifall von CDU-Abgeordneten. Der Innensenator saß auf der Regierungsbank wie auf dem Sünderbänkchen. Und als CDU-Fraktionschef Klaus Landowsky den Innensenator vor dem Parlament bat, für die nächsten zwölf Monate im Amt zu bleiben, klang die Beteuerung nicht wirklich glaubhaft.

Beim Parlamentsplenum am Donnerstag glaubte nicht einmal die Opposition mehr so recht an Neuwahlen. „Die rappeln sich wieder zusammen“, meinten realistische Stimmen der Grünen und der PDS. Und aus der SPD ist die Einschätzung zu hören: „Wenn es um den Machterhalt geht, hält die CDU immer zusammen.“

Als am frühen Abend eine Agentur meldete, Kultursenator Peter Radunski sei als CDU-Bundesgeschäftsführer im Gespräch, brach in der Lobby des Parlaments kurz Hektik aus. Sollte etwa der einzige unumstrittene CDU-Senator nach Bonn geholt werden? Das könnte den wackeligen Senat vollends zum Kippen bringen. Doch schnell löste sich das ungläubige Staunen der SPD-Politiker und Journalisten in Heiterkeit auf. Eine Selbstdemontage diesen Ausmaßes traut niemand der CDU zu. Am Freitag morgen stellte Radunki unmißverständlich klar: „Ich bleibe in Berlin!“