Die vergessene Kraft des Wortes

Der Rundfunk in Deutschland wird 75 Jahre alt. Die Radiomacher setzen heute nicht mehr auf den wohlig-schönen Schein der Stimme und ihre Wirkung, sondern jagen lieber Mozart durch den Kompressor  ■ Von Carsten Otte

Lange ist es her, da drehte man am dicksten Rad des Radios, um das gewünschte Programm einzustellen. Das dauerte zwar, verschaffte dem Hörer aber zumindest ein kleines handwerkliches Erlebnis. So jedenfalls schildern die Großeltern ihre Erfahrungen mit dem Volksempfänger.

Wenn dagegen heute das automatische Sendersuchsystem des Autoradios per Knopfdruck in Gang gebracht wird, wenn also die Zahlen übers Display rasen und das Gerät plötzlich bei einer Frequenz innehält, entscheidet sich selten der Hörer. Es ist bloß die Maschine, die auf die Übertragungskraft einer Station reagiert. Warum auch nicht? Die Sender ähneln sich. Schwache Signale jener Programme, die nicht durch den verstärkenden Kompressor gedrückt werden, werden bei diesem Auswahlverfahren ignoriert.

Der Optimod ist der Killer aller leisen Töne

Der Kompressor, der sogenannte Optimod, ist der Killer der leisen Töne und des Wortes im Hörfunk. Er zieht die Lautstärke hoch. Alle Popwellen arbeiten mit dieser Technik. Es soll sogar Klassikradios geben, die ihre Mozart-Hits durch diesen Verzerrverstärker nudeln, damit auch die dann nicht mehr leisen Stellen im Auto zu hören sind: Piano trotz Motorengeräusch.

Für den automatischen Sendersuchlauf hat das Musikprogramm nicht nur einen technischen Vorteil gegenüber den Wortstrecken. Text bedeutet immer Kommunikation, und wer will schon nach dem Gequatsche im Arbeitsalltag auch noch am Feierabend kommunizieren. Immerhin, es gibt sie noch: Die öffentlich-rechtlichen Sender gönnen sich neben Pop-Schlager- Volksmusik-Programmen auch Kulturkanäle, die noch mehr oder weniger Originaltöne und – kaum zu glauben – längere Wortstrecken senden.

Ein dreiminütiger Bericht ist im heutigen Radiogeschäft fast schon drei Minuten zu lang. Zuhören scheint nicht trendy, und außerdem verfolgt die Radiomacher eine Angst, die sie sich selber eingeredet haben: daß ungeduldige Hörer auf eine Konkurrenz-Welle umschalten könnten, wenn ein Wortbeitrag zu lang dauert. All die Hörspielereien sind aber oft überhaupt nicht kurz. Dafür haben die traditionellen Radioformen wie Feature oder Hörspiel andere Vorzüge. Fragt man den Radioautoren, worauf es denn beim Schreiben für den Hörfunk ankommt, so wird er wohl vom berühmten Kino im Kopf reden. Doch das ist leichter gesagt als getan, wenn das Fernsehen die Bilder frei Haus sendet und das Multiplex die Illusionen auf Großleinwand präsentiert. Aber so falsch ist die Vorstellung nicht.

Es ist wie in der Erotik. Die nackte Brust regt weniger an als die verhüllte. Die Wunschbilder, die nur durch ein akustisches Signal entstehen, sind besonders bunt. Deshalb funktioniert auch das Geschäft mit dem Telefonsex so gut. Wer nur die Stimme des Lustobjekts kennt und ein paar merkwürdige Geräusche hört, kann sich ziemlich viel einbilden.

Der Theoretiker Marshall McLuhan beschrieb das Phänomen in seinem Buch „Understanding Media“: „Das Radio tritt uns gegenüber direkt auf, wie von Mensch zu Mensch, privat und intim. Das Ohr ist im Vergleich zum neutralen Auge empfindlicher. Das Ohr ist intolerant, in sich geschlossen und schließt anderes aus, während das Auge offen und neutral ist und Verbindungen herstellt.“

Vollmundiger Brummbär und fiese Fistelstimme

Ein Beispiel für das fixierende Hören: Die Spannung in einem Fernseh-Krimi wird über die Geräusche gesteuert, über das Pochen im Hintergrund, über kratzende Streicher oder über ein dumpfes Röcheln. Doch im Fernsehen wird die Spannung, die diese Töne erzeugen, unmittelbar durch Bilder aufgelöst – es sei denn, es bleibt dunkel. Im Hörfunk bleiben hingegen immer Angst und Schrecken pur. Wer sich mal auf einen Nachmittags-Krimi im Radio eingelassen hat, kommt nicht wieder davon los. Allein die Stimme eines Sprechers kann schon für Gruseln sorgen. Ein Satz wie „Er lutschte Salbeibonbons, während er schrieb“ liest sich wenig aufregend und hört sich zunächst auch nicht besonders schlimm an. Wenn sich ein Schauspieler vor die Kamera stellen und diesen eher schlichten Salbei-Satz aufsagen würde, wäre dies peinlich, wenn's nicht gerade zum peinlichen Dreh-Konzept gehört. Aber man stelle sich einmal vor, eine fiese Fistelstimme und ein vollmundiger Brummbär sprächen unisono vom Salbeibonbon-Lutschen-und-Schreiben, als wäre dies eine Sensation. Dann ist das auch eine Sensation, und derlei geht eben nur im Radio. Die fiktive Kraft des Wortes im Radio besteht im schönen Schein der Stimme. Wer jahrelang einem Radio-Moderator treu war und das Pech hat, dem sprechenden und unsichtbaren Begleiter einmal leibhaftig zu begegnen, ist meist schwer enttäuscht.

Wenn aber ein Vorteil am Wort im Radio die Fiktion ist, dann sind jene Hörstücke, deren Form und Inhalt gerade auf diese Fiktion abzielen, besonders spannend. Was genau ein Feature ist und wann die Fiktion zum Hörspiel reicht, kann man nicht so genau erklären; man kann vielleicht von „offeneren Formen“ sprechen, die auch andere Inhalte erlauben als die sonst im Radio üblichen Ansagen und Verkündungen, Schnitte und Blenden. Ein Feature kann zum Beispiel von den Geräuschen des menschlichen Körpers handeln – also dem Lachen, dem Weinen, dem Rülpsen oder Stöhnen – und in der Darstellung die üblichen Regeln des Radiojournalismus überschreiten.

Die Wauwautheorie als wunderbares Beispiel

Im Feature lösen sich die Kategorien von Reportage, Kommentar und Dokumentation auf. Schon die ersten Hörspielautoren wie Alfred Andersch oder Erich Kuby versuchten, ihrer Prosa mittels Textcollagen und Geräuschmontagen den statischen Charakter auch ihrer fürs Ohr verfaßten Sprache zu entziehen. Schade, daß ihre alten Hörstücke so selten wiederholt werden, während das Fernsehen Kino-Klassiker wie „Sissi“ und „James Bond“ doch unablässig wiederholt.

Nun gibt es nicht nur altes Zeug. Auf den wenigen Sendeplätzen, die im deutschen Hörfunk nach den zahlreichen Programmreformen für kleinere und größere Hörwagnisse übrig geblieben sind, kommen auch die jungen Bastler zu Wort. Man muß nur ab und zu in eine Programmzeitschrift schauen. Hermann Bohlens „Wauwautheorie“ etwa, in der zwei Hundekenner sich darüber auslassen, warum ein Hund auf chinesisch nicht „wauwau“, sondern „wangwang“ macht, ist zwar auch schon vier Jahre alt, gehört aber zu den wunderbaren Beispielen der Hörkunst, die sich nur im Radio voll entfalten. Erst durch die Aufnahmen des unechten chinesischen Hundegebells wird der Beitrag wirklich komisch.

Furchtbar wäre es übrigens, wenn das „wangwang“ durch den Kompressor gejagt würde und man statt „wangwang“ vielleicht „funkfunk“ hörte. So kläfft allein der Köter von Diedrich Diederichsen. So wichtig also ist für den Hörfunk der genaue Klang.