Alternativ gestrandet

Die aktuelle Lehrstellenbilanz trügt. Eine Trendwende ist nur scheinbar geschafft. Denn immer mehr Jugendliche versinken in den Grauzonen der Statistik  ■ Von Michael Hollmann

Henryk Gamroth ist durchgerasselt, und das gleich zweifach. Der 19jährige Bremer gehört zu denen, die schon vor einem Jahr bei der Bewerbung leer ausgegangen sind. Eine Lehre in seinem Wunschberuf Bürokaufmann – „oder etwas anderem im kaufmännischen Bereich“ – konnte er nicht antreten. „Obwohl ich um die 40 Bewerbungen rausgeschickt und auch an mehreren Einstellungstest teilgenommen habe.“ Was blieb ihm da schon übrig? „Um nicht zu versauern, habe ich mich entschieden, wieder die Schulbank zu drücken.“

Seit August 1997 besucht Henryk das Wirtschaftsgymnasium in Bremen-Walle. Bei der Berufsberatung bleibt er trotzdem als Lehrstellensuchender gemeldet, denn für einen Ausbildungsvertrag würde er die Schule jederzeit wieder schmeißen. Trotzdem gelten Bewerber wie Henryk Gamroth in der Lehrstellenstatistik der Bundesanstalt für Arbeit (BA) als versorgt.

Genauer gesagt: Sie werden in einem Schattenbereich der Statistik verortet, sind nach offizieller Lesart weder „in eine Berufsausbildungsstelle eingemündet“ noch „unvermittelt geblieben“.

Die vorläufige Lehrstellenbilanz fällt dehalb je nach Lesart sehr unterschiedlich aus: Von den 796.566 Jugendlichen, die sich zum 1. September 1998 über die Arbeitsämter um eine Lehrstelle bewarben, wurden offiziell nur 35.900 als „nicht vermittelt“ gezählt. Sie hatten bei Abschluß des Vermittlungsturnus am 30. September weder eine Lehrstelle noch eine Alternative dazu. Ähnlich wie Henryk Gamroth vagabundierten aber etwa 340.000 weitere Bewerber neben den Unvermittelten und den tatsächlich Versorgten in der Statistik umher. Fest steht, daß auch sie irgendwann im vergangenen Jahr das Arbeitsamt zur Vermittlung einer Lehrstelle einschalteten und doch keinen Platz erhielten. Die meisten von ihnen haben sich ebenfalls für den Besuch einer weiterführenden Schule entschieden oder ein Studium begonnen. Andere haben ihren Wehr- oder Zivildienst angetreten oder eine unqualifizierte Beschäftigung aufgenommen.

47.000 Jugendliche wird in diesem Jahr ein einfacher Job als vollwertige Alternative zum entgangenen Ausbildungsplatz angerechnet. Fast 80.000 rauschten sogar komplett durch die Statistik, weil sie auf die Vermittlungsvorschläge der Berufsberatung nicht mehr reagierten. Sie gelten als „unbekannt verblieben“.

„Die Zahl der Bewerber in dieser Grauzone der Berufsberatungsstatistik hat deutlich zugenommen“, urteilt Christine Gutknecht, Statistikerin bei der Bundesanstalt für Arbeit (BfA) in Nürnberg. Um herauszufinden, für wie viele Jugendliche Auffanglösungen nur eine Warteschleife sind, haben die Nürnberger zusammen mit dem Bundesinstitut für Berufliche Bildung (BiBB) bereits im vergangenen Jahr eine Nachbefragung durchgefüht.

Ergebnis: Die „alternativ Gemündeten“ schienen zum größten Teil alternativ gestrandet zu sein. Die meisten Befragten werteten ihre Situation nicht als gleichwertige Alternative, sondern betonten, sie hätten lieber eine betriebliche Ausbildung begonnen. Durch eine verbesserte Stichprobe Ende dieses Jahres soll die Zahl der Lehrstellen, die für diese Gruppe zusätzlich benötigt würde, genauer ermittelt werden, kündigt Gutknecht an.

Zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften ist der Streit um die korrekte Interpretation der Statistik unterdessen voll entbrannt. Die Spitze des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) geht davon aus, „daß in diesem Jahr mindestens 150.000 Jugendliche sich für Lösungen entscheiden müßten, die keine wirklichen Alternativen zur dualen Ausbildung sind“. Mehr als 100.000 Bewerber hätten sich schließlich erst im September für andere Angebote entschieden.

Berufsbildungsexperten der Arbeitgeberseite sehen das anders. Jobst Hagedorn von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) in Köln: „Die Behauptung, daß es sich bei den alternativ Verbliebenen ausschließlich um Lehrstellensuchende handelt, konnte bislang nicht erhärtet werden.“ Er bleibt dabei: In den meisten Fällen seien es nur reine „Fall-back-Optionen“ für anderweitig ambitionierte Bewerber – diese würden in erster Linie ein Studium oder eine ungelernte Tätigkeit anstreben und völlig unabhängig von der Konjunkturlage auf eine Lehrstelle verzichten. Hagedorns Kollegen vom Deutschen Industrie- und Handelstag (DIHT) in Bonn sprechen gar von einer „statistischen Fata Morgana“.

Für Verwirrung sorgt außerdem der noch amtierende Bundesbildungsminister Jürgen Rüttgers, der im Zahlendschungel der Lehrstellenstatistik offenbar jede Orientierung verloren hat. Vor einem Jahr bezeichnete Rüttgers das Defizit von mehr als 150.000 Lehrstellen als „alarmierend“. Wenige Monate später, bei der Präsentation des Berufsbildungsberichts, blies er zur Entwarnung: „1997 wurde unter schwierigen Bedingungen der bundesweite Ausgleich von Angebot und Nachfrage geschafft.“

Nach Meinung von DGB-Bundesjugendsekretär Roland Schinko gehen die Zahlenspiele völlig an der Realität vorbei: „Die Statistik ist zwar nur bedingt aussagefähig“, meint der Gewerkschafter, „aber allein der Trend der letzten Jahre spricht doch schon Bände.“ Das bundesweite Gesamtangebot an Lehrstellen ging zwischen 1991 und 1998 um mehr als 15 Prozent auf rund 604.000 Ausbildungsplätze zurück.

„Auch die verstärkten Ausgleichsprogramme von Bund und Ländern haben diesen Rückgang nicht bremsen können“, klagt Schinko. Das Sonderprogramm Ost etwa wurde in diesem Jahr erst auf 17.500 Plätze erhöht. In den neuen Bundesländern sind mittlerweile zwei Drittel aller Lehrstellen staatlich subventioniert. Dabei strömen immer mehr Bewerber auf den Markt, denn bis zum Jahr 2007 wird mit weiter steigenden Schulabgängerzahlen gerechnet.

Eine ganz neue Qualität aber hat das Tauziehen um die Statistik durch den Machtwechsel in Bonn erhalten, analysiert Schinko. Immerhin hätten SPD und Grüne nun die Gelegenheit, das in die Tat umzusetzen, was sie zu Oppositionszeiten lediglich als aussichtslose Gesetzesinitiative in den Bundestag eingebracht haben: eine Umlagefinanzierung nach der Devise: „Wer nicht ausbildet, muß zahlen.“ Um eine solche Abgabe zu vermeiden, wollen die Arbeitgeber künftig andere Statistiken servieren: Ihre Spitzenverbände weichen deshalb zunehmend vom gesetzlichen Zählverfahren ab und operieren mit eigenen Jahreszahlen.