"Hochkant von der Bühne"

■ Ist der Jazz tot? Und wenn ja, wer hat ihn auf dem Gewissen? Ein weißer Jazzer erzählt sein Leben: Joe Zawinul über Coltrane, Miles Davis und das Ende des Jazz als Musik und Lebensstil, den Beginn seiner Musikerla

taz: Warum geht es dem Jazz so schlecht, Mr. Zawinul?

Joe Zawinul: Geht's denn dem Jazz wirklich so schlecht?

Anders formuliert: Warum ist der Jazz heute tot?

Das klingt doch schon besser. Die Jazzmusik ist tot, mausetot, auch wenn nach wie vor Schallplatten aufgenommen werden. Es ist noch nicht einmal der Fehler der jungen Musiker, daß sie das Fundament nicht mitgekriegt haben – nie mitbekommen konnten. Immerhin leben die großen Meister nicht mehr – das Fundament des Jazz liegt schließlich nicht im Spiel, sondern im Lebensstil. Und diesen gewissen Lebensstil, der die Jazzmusik erst zum Leben erweckt, den kann man leider Gottes nicht erfinden, es ist halt heute nicht mehr so wie früher.

Was hat denn diesen Lebensstil ausgemacht, daß er für die Jazzmusik so vital wichtig war?

Wie die alten Jazzmusiker gelebt haben, das war eine Schule fürs Leben. Die älteren Meister hatten alle einen super Ton. Ohne den bist du gar nicht erst auf die Bühne gegangen. Heute dagegen gibt's unzählige Music Schools, in denen die Schüler ihr Handwerk lernen, und insgeheim finden's die Plattenfirmen super, weil sie sich auf diese Weise pflegeleichte Instrumentalisten heranziehen.

Und die wären damals ausgebuht worden?

Aber hochkant wären die von der Bühne geflogen, ich sagte ja schon: Die Zeiten waren anders, also auch das Publikum.

Sind Sie also gegen Akademien wie die Berkley School, an denen Jazz gelehrt wird?

Nein, nein, Schulen braucht es immer. Das ist wie in der klassischen Musik, da braucht es ja auch Akademien – nur daß sich die klassische Musik in den letzten 150 Jahren um keinen Zentimeter weiterentwickelt hat. Und das, behaupte ich, droht auch der Jazzmusik. Denn nach jeder großen Periode kommt ein Niedergang.

Betrübt Sie das?

Für mich ist Jazzmusik die größte Kunstform des 20. Jahrhunderts, erfunden und gespielt von schwarzen Amerikanern. Nichts hat die Musik unserer Zeit so beeinflußt wie der Jazz. Doch da die großen Meister heute nicht mehr leben, bedeutet das für die jungen Musiker, daß sie ihre Informationen von Schallplatten bekommen. Jazz ist heute nicht mehr in einen gesellschaftlichen Kontext eingebunden. Das ist ein riesiger Unterschied!

Können Sie den Punkt, an dem sich alles zum schlechteren neigte, benennen?

Das Übel begann, als nur noch improvisiert wurde, die Songstrukturen, die Gesetze vergessen wurden, immer längere Soli an die Stelle der Songs traten.

Reden Sie von „Bitches Brew“ und „On the Corner“, die die Fusion von Jazz und Rock einleiteten? Kam so der Anfang vom Ende?

No. Das Problem sind die Epigonen. Da macht mal einer was gut, wie der Miles, dann kopieren das alle. Und das Unheil nimmt seinen Lauf. Die Jazzmusiker haben dann in den Siebzigern zu miscellaneous gespielt, mir ging das immer auf die Nerven. Oft plätscherte das Schlagzeug so eigenartig wellig daher, aber da war kein Groove dahinter. Das scheint im übrigen ein Zeitphänomen gewesen zu sein, denn in der Rockmusik der Siebziger wurden die Soli ja auch immer länger. Man konnte auf die Uhr gucken und die Minutenzeiger wandern sehen. Es war grauenhaft.

Wie konnte es dazu kommen?

Etliche der älteren Meister hatten ihre Grundsätze einfach vergessen. Und auf den Schulen wurden nur die alten Bebop-Soli gelehrt. Was blieb, war im besten Fall der originale Ton – aber der reicht eben nicht immer. Eine Mitschuld haben dabei die Plattenfirmen: Die offerieren den jungen Burschen viel Geld. Das ist erst einmal nicht verkehrt. Aber den Superton kann man nicht kaufen: Den hat man, oder den hat man nicht. Auf der anderen Seite fördern die Plattenfirmen niemanden, weil er Talent hat, sondern ausschließlich, weil er Verkaufserwartungen hat. Und diese armen jungen Teufel müssen dann rausgehen in die Welt und um ihr Leben spielen. Aber das Publikum kann man nicht anlügen.

War die Plattenindustrie in den fünfziger bis siebziger Jahren wirklich so anders als heute?

Wir reden von Blue Note, von Impulse und von Riverside – richtig?

Ja.

Die waren anders, denn die hatten eine andere Philosophie als diese ganzen Seelenverkäufer von heute: Die haben prinzipiell nur die besten Musiker genommen, Musiker, von denen man vorher noch nie etwas gehört hatte, und dann versucht, die Platten zu verkaufen. Ich hatte 1963 zum Beispiel eine Platte mit Ben Webster, in meinen Augen einer der All Time Greats, aufgenommen, die hieß „The Duet Leader“. Ich hatte die ganze Musik arrangiert und einige der Stücke sogar komponiert. Fünfzig Dollar habe ich dafür bekommen, aber ich habe mich nicht beklagt, denn ich wußte zu schätzen, daß unsere Musik ernst genommen wurde. Heute sind die Plattenverträge eher wie im Sport: nichts als Spekulationen.

In der Rockmusik gab es als Reaktion auf die endlosen Improvisationen 1977 die Punkmusik. Steht diese Revolution dem Jazz noch bevor?

Das weiß ich nicht. Und wie Jazzmusik heute gespielt wird, interessiert mich auch nicht mehr. Als ich zum Jazz gekommen war, hat mir der Jazz erst mein Leben gegeben. Wenn ich heute jung wäre, wäre ich nie ein Jazzmusiker geworden.

Heute wären Sie DJ geworden?

Nein. Ich würde heute vermutlich überhaupt nichts mehr mit Musik zu tun haben wollen.

Aber ist der Lebensstil der DJs nicht eine Entsprechung zu dem der Jazzer von damals?

Nun – was die machen, ist auch nichts Neues. Aber ich gebe zu: Es ist zumindest frisch. Und ich glaube ohnehin, daß die frischen Sachen momentan eher aus Europa als aus Amerika kommen. Schon vor fünfzehn Jahren habe ich über diese Young-Lion-Bewegung gesagt, daß sie brechen wird wie ein weiches Ei.

Sie reden von Musikern wie Wynton Marsalis?

Ja, der is a guter Bua, a wichtiger Bursch, aber seine Musik ist halt nix. Ein wahnsinniger Trompeter, ein meisterlicher Instrumentalist, aber wozu soll ich mir das anhören?

Miles Davis sagte über die Young Lions, das wären „die alten Klamotten von gestern“.

Ganz genau, es ist zwar elegant, aber zu geschleckt.

Und was sagen Sie zu Coltrane?

Ich muß dir ganz ehrlich sagen, für viele Leute ist der Coltrane ein Gott. Und ich respektiere ihn. Aber seine Musik hat mir nie gefallen. Das war mir zu prophetisch. Das ist der große Unterschied zwischen Trane und Miles: Ich hab' den Coltrane oft live gehört, aber nie lange ausgehalten. Nach ein, zwei Stücken ging ich meist. Seine Stücke waren endlos.

Sie sind der einzige weiße Europäer, der im schwarzen Jazz eine solche Karriere hingelegt hat.

Als ich im Jänner 1959 nach New York kam, war ich sofort unter schwarzen Musikern. Die haben mich aufgenommen wie ein Familienmitglied. Wir waren alle immer zusammen essen, trinken, spielen. Und das zu einer Zeit, als im Süden der USA noch weitgehend Rassensegregation herrschte. Oft konnten wir nicht ins Hotel, das war für Schwarze nicht möglich. Also übernachtete auch ich aus Solidarität im Auto. Mein Spiel war nicht schwarz, aber es war auch nicht weiß. Das hat denen gefallen. Meine Liebe zur Musik war halt groß. Und Gott sei Dank habe ich viel Talent gehabt – darauf braucht man aber nicht stolz zu sein, nur dankbar. Und ich hatte 1959 etwas mitgebracht, was die Jazzer nicht kannten: die Volksmusik Tschechiens, Ungarns und Österreichs, die in meinem Klavierspiel eine Rolle spielt. Den Schwarzen hat das gut gefallen, und für lange Zeit spielte ich dann den Bebop mit meinem Einschlag.

Hatten Sie jemals Heimweh nach Europa?

Ich hätte vielleicht Heimweh gehabt, wenn ich über das bloße Imitieren nicht hinausgekommen wäre. In dem Falle wäre ich wohl nach Europa zurückgegangen und hätte ein Radioorchester übernommen. Aber ich hatte ja meine Engagements: Ich war Pianist bei Dinah Washington, der Königin des Blues. Ich hatte auch das Glück, jeden Tag mit Ben Webster spielen zu können. Und auch mit Coleman Hawkins. Das waren alles gute Freunde mit großem Respekt voreinander. Und mit Wes Montgomery und Jay Jay Johnson war's genauso. Alle Musiker waren Konkurrenten, aber es gab dennoch keine Eifersucht. Denn wir lebten ein schlechtes Leben – es gab damals kaum Geld mit der Jazzmusik zu verdienen.

Es ist irritierend, Sie von Volksmusik reden zu hören.

Halt, halt, ich meine die Form von Volksmusik, die auf einer tschechisch-österreichischen Basis beruht. Ich bin teilweise Ungar, a bisserl Boheme ist auch drin, und meine Großmutter war eine ungarische Zigeunerin. Mit viereinhalb oder fünf Jahren habe ich Akkordeon gespielt – für mich war das der erste Synthesizer. Ich fand bald Register, die ich umbauen konnte, und mit denen habe ich den Sound verändern können. Ich experimentierte damit ein wenig, und der gewisse andere Sound war mit einem Mal da.

Mit vier Jahren bauten Sie ein Akkordeon um?!

Nein, umgebaut habe ich mit ungefähr sieben. Ich hatte den Filz von einem Billardtisch reingestopft.

Woher bekommt ein Siebenjähriger ein teures Billardtischtuch?

Ah, du kennst dich aus? Also frag besser net. That's a secret. Jedenfalls wurde so der Sound erheblich besser. Meine Faszination für den Synthesizer kam nur vom Sound, und mir ist es egal, ob ein Sound elektronisch ist oder nicht. Für mich ist jedes Instrument erst einmal ein totes Instrument – da ist keines besser als das andere. Es kommt nur auf den Musiker an, der damit umgeht.

Heute dagegen gibt es im Jazz keine Musiker mehr, nur noch Instrumentalisten.

Ganz richtig! Wayne Shorter ist das Beispiel, warum ich nie wieder einen Saxophonspieler hatte – weil keiner mehr da ist. Die Saxophonspieler von heute können alle spielen wie die Teufel, rauf und runter, quer, durch, schnell, aber im Grunde sind sie nichts als Windbeutel. Und Wayne Shorter war in meinen Augen eben kein Saxophonspieler, sondern ein genialer Musiker, der eben das Saxophon spielte. Das ist der große Unterschied.

Interview: Thomas Schönberger

und Max Dax

Tourtermine: 18.10. Berlin, 19. und 20.10. Köln, 21.10. Hamburg