■ berlin spinnt
: Anatolische Lieder und fünf neue Minarette für Berlin

Der junge Deutsche in der U-Bahn schaut gebannt auf die Titelseite seiner BZ, der allmorgendlichen Boulevardlektüre. Auffällig lange starrt er auf die Zeilen, gibt es doch eigentlich nicht viel zu lesen. „Deutschland neu: Türken werden Deutsche“, „AtomKraft aus“ und „Deutscher Fußball so schlecht wie nie“. Er schaut und schaut und schaut. So als hätte ihn der ungewohnte Anblick der türkischen Flagge in seiner Zeitung, die er tagein, tagaus liest, hypnotisiert. Was denkt er wohl, denke ich. Versucht er etwa den Zusammenhang zwischen Türken, Atomkraft und Fußball zu verstehen? Sieht er etwa die Moschee am Berliner Columbiadamm mit sechs Minaretten statt wie bisher mit einem? Der Ruf des Muezzins so laut, daß er ihn sogar im entfernten Köpenick am Stadtrand hört? Sieht er das 1:0 der türkischen Fußballer über das deutsche Nationalteam als den Anfang vom Ende? Im Bezirk Schöneberg erlebe ich noch einmal ein merkwürdiges Ereignis an diesem mysteriösen Tag. Ein junger Türke singt auf der Straße aus vollem Halse ein anatolisches Lied. Worüber freut er sich, denke ich. Eine Rentnerin schaut aus dem Fenster, als wünschte sie ihm lebenslange Heiserkeit, als würde sie denken: „Das geht nun aber wirklich zuweit.“ Ganz auszuschließen ist das nicht, daß die Leute das denken, was ich denke. Denn manche Berliner werden in diesen Tagen von dubiosen Ängsten befallen. Auf Schritt und Tritt begegnet sie mir auf den Straßen dieser bunten Stadt.

Schuld daran ist einer der Beschlüsse der neuen Regierung in Bonn. „Türken sollen Deutsche werden“, verkündeten die Koalitionäre in spe – so ganz ohne Vorbereitung. Und noch in der Nacht kursierten gigantische Zahlen in der deutschen Hauptstadt: Zehntausende, nein Hunderttausende Türken würden auf einen Schlag Deutsche werden. Alle. Auch die mit den BMWs und den Kampfhunden. Nicht zu vergessen die mit den Kopftüchern. Türkische Flaggen erschienen in deutschen Zeitungen, „Berlin – eine Stadt in Angst“, könnte die Überschrift zum passenden Film lauten. „Überfremdung“ lautet das Zauberwort.

Türken dürfen Deutsche werden – nein das ist es nicht, was die Berliner in Angst und Schrecken versetzt. Türken dürfen ihren türkischen Paß behalten, daran erschreckt sich der Berliner. Sie dürfen also Deutsche werden und dabei Türke bleiben. Verstehen Sie, was ich meine? Äußerlich merkt man nicht so viel von den Ängsten. Das Leben in Berlin geht weiter seinen Gang. Doch die Gespräche ändern sich. Mit Kollegen, Freunden und Bekannten gibt es kaum mehr ein anderes Gesprächsthema. Ob wir denn auch gut genug deutsch sprechen, warum wir uns von dem türkischen Paß nicht einfach verabschieden können? Mit meinem für die „zweite Generation“ typischen Hang, alle, die Scheu vor dem Fremden haben, zu missionieren, pflege ich in diesen Tagen verängstigte Bürger mit dem folgenden Vergleich zu beruhigen: Irgendwann gab es die Hedither nicht mehr. Vermutlich sind sie im Völkergemisch untergegangen. Sie waren ein tolles Volk, und die Menschheit hat ihnen viel zu verdanken. Aber mal ehrlich. Vermißt sie einer? Aus der Vermischung sind schließlich andere tolle Völker entstanden und wieder andere und wieder andere. Meinen Taxifahrer konnte ich damit nicht überzeugen. Ich muß mir, glaube ich, etwas anderes einfallen lassen. Suzan Gülfirat