Das Geschlecht des Unterkiefers

■ Am Mittwoch hält Ernst Klee einen Vortrag über medizinische Versuche in Nazi-KZs

Wenn der Vortrag des renommierten NS-Forschers so voller Fakten und O-Töne, hingegen ohne Theorieschwurbel und Erklärungsgesülze ist wie sein preisgekröntes Buch „Auschwitz. Die NS-Medizin und ihre Opfer“, dann sollte man ihn keinesfalls versäumen. Abzuraten von einem Besuch ist hingehen, wenn ein größerer Arztbesuch bevorsteht.

Man erfährt nämlich nicht nur viel über Kältetests (Ergebnis: ein Mensch stirbt, wenn er sich circa sieben Stunden in 12 Grad kaltem oder drei Stunden in 2,3 Grad eiskaltem Wasser aufhält an Herzmuskelversagen), Höhentests (Ergebnis: ein Mensch stirbt bei 17 km Höhe), künstlichem Zufügen von Verbrennungen und Wunden oder Verabreichen von Nervengiften. Man erwirbt Einsichten über Gefahren naturwissenschaftlichen Forschens schlechthin. Klee erzählt von Forschern, die vor und außerhalb des Nazikontextes so schöne Dinge erforschten wie die Auswirkung des „Behämmerns von Kaninchenschädeln“ durch eine Schuhklopfmaschine oder ihr Leben der Theorie widmeten, daß Schizophrenie durch Einspritzen von Malariaerregern zu heilen sei. Als ob Probleme im Schüttelfieber auszuschwitzen wären. Einem anderen Wissenschaftler gelang der Nachweis, daß „der Unterkiefer des Rehs keine deutlichen Geschlechtsunterschiede erkennen läßt; es ist deshalb nicht möglich das Geschlecht eines Rehs aus dem Verhalten des Unterkiefers zu bestimmen“, wie er es selbst 1942 formulierte. Solche Forschungsinteressen sind in keinster Weise faschistisch. Allerdings reduzieren sie Leben auf groteske Kausalzusammenhänge. Der Weg nach Auschwitz ist nicht allzu weit.

Solche Beispiele erwecken den Verdacht, daß das ärztlich verordnete Gemetzel nicht ein Ausnahmefall in der Medizingeschichte ist, sondern der Ernstfall: allzu nüchterner Forschergeist, auf die Spitze getrieben. Höhen- und Kälteexperimente wurden vom Militär angeordnet. Doch viele andere Experimente wurden ausschließlich auf Wunsch der Ärzte betrieben. Ein Arzt experimentierte mit biologischen Waffen gegen den ausdrücklichen Wunsch des „Führers“. Ein anderer, der sich für das Verhalten der Eierstöcke junger Frauen unter Angstzuständen interessierte, bekniete förmlich die Behörden um „Menschenmaterial“. Antrieb dabei war nicht, zu heilen, sondern zu erkennen. Pure Neugierde. Wangenfraß zum Beispiel therapierte ein Mengele just solange, bis er rausgefunden hatte, was Ursache und Heilmethode sind. War das erst einmal entdeckt, ließ er die Patienten verrecken. Ein Dr. Schilling war derart besessen von der Idee, einen Malariaimpfstoff zu entdecken, daß ihn 1.100 Forschungsopfer und 40 Jahre Mißerfolg nicht weiter irritierten.

Viele Experimente beeindrucken durch ihren Schwachsinnsgrad. Einer etwa wollte ausprobieren, ob Tuberkolose durch das Einatmen von Kohlenstaub zu heilen wäre. Solcher Aberwitz wurde draußen, außerhalb des KZs, von normalen Uni-Profs als „sehr gute“ Doktorarbeit akzeptiert. Die KZ-Aktivitäten mußten also nicht geheimgehalten werden innerhalb eines inner circles von hartnäckigen Nazigläubigen. KZ-Experimente wurden mal vor 64, mal vor 95 Koryphäen der deutschen Ärzteschaft in aller Unschuld vorgestellt. Darunter auch Deutschlands berühmtester Chirurg Ferdinand Sauerbruch. Wohl nicht alle von ihnen fanden das tödliche Forschen am Menschen toll, aber „schon aus Gründen des militärischen Taktes gegenüber den SS-Ärzten konnte man keine Kritik üben“, so ein Arzt später vor Gericht. Klee nennt all ihre Namen. Namenslisten durchpflügen das Buch, deren längste zehn Seiten umfaßt: Der einzige Irrationalismus (oder ist es Moralismus?), den sich Klee leistet. Ein Akt der Rache. Irgendwie verständlich, schließlich dokumentiert er genau die tollen Nachkriegskarrieren der meisten Ärzte. Die Multiple Sklerose-Gesellschaft fungierte nach dem Krieg als eines der Auffangbecken für Naziärzte. Das forschungskoordinierende Kaiser-Wilhelm-Institut gab sich wenigstens einen neuen Namen: Max-Planck-Institut.

Raul Hilberg zeigte einst in seinem 1.200 Seitenwälzer das perfekte Schnurren des Behördenapparats. Bei Klee erstaunt hingegen eher die Unlogik im Morden. Ab 1944 wurden in Mauthausen lästige Esser getötet, indem man sie mit einem Viertel der normalen Lagerration systematisch aushungerte. Warum wurden sie von den NS-Ärzten nicht konsequent auf Nulldiät gesetzt? Kranke steckte man mit ansteckenden TBC-Patienten unter eine Decke. Dafür erhielten sie eine höhere Essensrationen als Gesunde. Eine Restfiktion vom Heilen sollte wohl immer noch aufrechterhalten werden. Warum?

Ob ein bestimmter Arzt seinen Patienten Milz, Herz oder Gedärm entfernte „zu Übungszwecken, aus Langeweile oder Sadismus“, weiß Klee nicht. Allerdings wurden viele Ärzte nach dem Krieg von ihren Opfern als sympathisch beschrieben. Mengele gar war „ein feiner Mensch“ und „allseits beliebt“. Seltsam der O-Ton eines Dr. Hellmuth Vetters. In Buchenwald „komme ich mir wie im Paradies vor. Man fühlt sich wieder als Mensch und das ist viel wert.“ Grund des Wohlbehagens: Er muß endlich nicht mehr um 5 Uhr früh aufstehen. Ein Sadist?

Nur mit einem winzigen Satz zieht Klee Parallelen zwischen der „Humangenetik“ der Nazizeit und heutiger Gentechnik. Skeptisch wird man allerdings gegenüber heutigen Bekundungen, es ginge doch nur um „das Wohl der Menschheit“. In Nachkriegsprozessen war es die Lieblingsausrede allzu „neugieriger“ Ärzte.

Barbara Kern

Ernst Klee spricht am 21. Oktober um 20 Uhr im Zentralkrankenhaus Ost, Haus im Park