Das Katz-und-Maus-Spiel um den kranken Kremlherrn

■ Der Kreml sucht zu bemänteln, was jeder weiß: Boris Jelzin ist todkrank und regierungsunfähig

Moskau (taz) – „Niesen darf man nicht mal mehr“, beschwerte sich Präsident Boris Jelzin bei Premierminister Jewgeni Primakow vergangene Woche. Demonstrativ hatte der kränkelnde Präsident am Mittwoch den Rat seiner Ärzte ignoriert und war im Kreml erschienen. Premier, Außen- und Verteidigungsminister wurden kurzerhand in den Amtssitz zitiert. Es galt, Arbeitsfähigkeit zu simulieren, nachdem Boris Jelzin einen Staatsbesuch in Kasachstan wegen einer „akuten Bronchitis“ tags zuvor hatte abbrechen müssen.

Die Aktivität des Kremlherrn hielt indes nicht lange vor. Nach der aufgesetzten Demonstration des Willens versteckte Jelzins Entourage ihren angeschlagenen Herrn wieder auf dem Landsitz Gorki 9 vor den Toren Moskaus. Gestern ließ die präsidiale Pressestelle melden: Der Gesundheitszustand Jelzins sei „zufriedenstellend, doch seien Symptome einer Bronchitis noch vorhanden“. Dennoch veranlaßte der Hofstab, den Kremlzaren von Gorki 9 in das Sanatorium Rus zu verlegen.

Das Katz-und-Maus-Spiel um das Wohlbefinden des Kremlherren gehört seit jeher zu den Spezifika der Führungsriege um Jelzin. Mit jedem „Dokument“, das der Präsident angeblich im Sanatorium „studiert“, wächst das öffentliche Mißtrauen. An der Handlungsunfähigkeit des Herrschers bestehen nach dem Besuch Mittelasiens keine Zweifel mehr. Die Gestaltung der aktuellen Politik nimmt Jelzin nicht mehr vor. So vergingen zwei Monate, bis er sich vergangene Woche erstmals mit seinem neuen Wirtschaftsberater traf.

Das politische Establishment hat Jelzin abgeschrieben und stürzt sich in den Vorwahlkampf. Langsam verlassen alle ehemaligen Vertrauten das lecke Schiff. Moskaus Bürgermeister Juri Luschkow wagte es sogar, die Einsatzfähigkeit Jelzins vor laufender Kamera in Frage zu stellen. Inzwischen ist die Macht an die Regierung übergegangen, deren Notpremier Primakow in der Öffentlichkeit breite Zustimmung genießt.

Nicht zufällig versammelte Jelzin vor kurzem den Generalstab im Kreml und rief den hochgestellten Militärs noch einmal in Erinnerung: „Sie sind dem Präsidenten unterstellt und nur ihm“, warnte Jelzin in einem für ihn inzwischen bemerkenswert aufgeräumten Zustand. Nicht etwa, daß Jelzin einen Coup des neuen Premiers fürchtete. Primakow ist, wie sich bei der jüngsten Inszenierung des „eingeschnappten Kranken“ im Kreml zeigte, seinem langjährigen Förderer loyal ergeben.

Der Präsident und seine Familie fürchten unterdessen Vergeltung von potentiellen neuen Machthabern, seien es Kommunisten oder Chauvinisten. Die Angst um Leib und Besitz beschleicht jeden Herrscher in Rußland, dem es nicht vergönnt ist, sterbend aus dem Amt zu scheiden. Jelzins beratende Tochter Tatjana Djatschenko und Administrationschef Valentin Jumaschew, gestand ein Vertrauensmann, „laufen inzwischen Amok“.

Die ehemalige Schaltzentrale, die Präsidialverwaltung, hat ihre dominante Rolle eingebüßt. Früher betrieb sie aktive Personalpolitik und beherbergte in ihren Reihen Fachleute, die als Gegenregierung Politikvorgaben lieferten. Mittlerweile ist sie personell ausgedünnt und feilt bestenfalls noch an Gesundheitsbulletins. Einen argen Schlag fügten auch die Provinzgouverneure Jelzin zu. Ein Antrag, der Zar Boris aufforderte, aus Gesundheitsgründen zurückzutreten, verfehlte letzte Woche im Föderationsrat, dem Oberhaus des Parlaments, nur knapp die Mehrheit.

Die sinkende politische Aktivität schreibt Beobachter Otto Latsis auch dem Entschluß Jelzins zu, im Jahr 2000 nicht mehr zur Wahl anzutreten: „Wenn der Präsident nichts hat, wofür er kämpfen kann, ist er nicht mehr der alte.“ Diese Woche entscheidet das Verfassungsgericht, ob das Grundgesetz überhaupt die Möglichkeit einer dritten Amtsperiode zuläßt. Das von Jelzin handverlesene Gericht wird ihm diesen letzten Wunsch wohl auch nicht abschlagen.

Mittlerweile ist der Schiedsspruch ein rein akademischer Zeitvertreib. Denn des Pantokrators fortschreitende Senilität läßt eine dritte Kandidatur absurd erscheinen. Allerdings fürchten auch Jelzins potentielle Nachlaßverweser, Luschkow, Lebed und KP-Chef Sjuganow , der Präsident könne plötzlich quicklebendig auf die Bühne zurückkehren. Mißtrauen und Respekt genießt Jelzin immer noch. Deshalb schrecken auch die hungrigen Thronprätendenten vorm Königsmord zurück. Im Vergleich zu Boris Jelzin, der 1991 Präsident Gorbatschow kaltstellte, sind sie nur politisches Mittelmaß. Klaus-Helge Donath