Nigerias Reichtum ist gleichzeitig sein Fluch

■ Die Autorität des Staates ist im ölreichen Niger-Delta praktisch zusammengebrochen

Robinson Okposio war sauer. 7.000 Kautschukbäume, zwei heilige Stätten und einen Acht-Zimmer-Bungalow, so erklärte der nigerianische Farmer aus Jesse vor Gericht, habe er verloren, als die Firma Seismographic Services Nigeria auf seinem Land eigenmächtig mit Dynamitsprengungen Öl gesucht habe. Er verlangte 50.000 Mark Entschädigung. Das Gericht hielt den Schaden schließlich im vergangenen September für nicht erwiesen und verhängte nur eine Geldstrafe von 2.500 Mark für „Ruhestörung“.

Streitfälle wie dieser sind Alltag nicht nur in Jesse, wo eine gigantische Pipeline-Explosion jetzt Hunderte Tote gefordert hat. Das gesamte Niger-Flußdelta leidet unter dem immensen Ölreichtum unter seinem Sumpfboden, das seit Ende der 50er Jahre von ausländischen Ölmultis und nigerianischen Subunternehmern gemeinsam ohne Rücksicht auf die einheimische Bevölkerung ausgebeutet wird. Die Ölsuche ohne Erlaubnis ist im Niger-Delta heute genauso normal wie auslaufendes Öl aus oberirdisch verlaufenden verrosteten Pipelines.

Nigerias Ölreichtum ist zugleich sein Fluch. Sorglos ausgegebene Ölmilliarden und damit verbundene Korruption führten Nigeria in den frühen 80er Jahren in den Wirtschaftskollaps und eine politische Krise, die die bis heute andauernde Militärherrschaft begünstigte. Die herrschenden Militärs gerieten 1995 in die weltweite Isolation, als sie den Schriftsteller Ken Saro-Wiwa hinrichteten, der zuvor Proteste seines 500.000 Menschen zählenden Ogoni-Volkes im Osten des Niger-Deltas gegen den Shell- Konzern angeführt hatte.

Was unter Saro-Wiwa als lokaler Protest begann, ist inzwischen zu einer breiten Infragestellung des nigerianischen Staatswesens angewachsen, das die Milliardeneinnahmen aus der Ölförderung in den Taschen der Herrschenden verschwinden läßt, während die Bevölkerung in Armut versinkt. Heute fordern viele Demokraten in Nigeria eine komplette Neugründung Nigerias als föderaler Staat – was damit beginnt, der Bevölkerung der Ölfördergebiete eine Stimme zu geben und sie von der Nutzung ihrer Heimat profitieren zu lassen.

Seit 1995 hat sich die Aufmüpfigkeit der Ogonis auf fast alle Volksgruppen im Niger-Delta übertragen. Aus dem Unmut vieler Dorfgemeinschaften, daß sie nicht einmal Arbeitsplätze bei den Ölkonzernen bekommen, bildet sich allmählich ein politisches Programm, das die Einheit Nigerias in Frage stellt. Zunächst entstand 1995 die „Bewegung der südlichen Minderheiten“, die eine Föderalisierung Nigerias mit dem Delta als eigene Region forderte. In Konkurrenz dazu entstand im August 1997 die radikalere „Gruppe der Minderheiten des Niger-Deltas“ (Chikoko), die nach den Worten ihres Führers Douglas Oronto die „Zwangsvereinigung der Nationen des Niger-Deltas“ mit dem Rest Nigerias bekämpfen will – „mit allen notwendigen Mitteln, wenn Verhandlungen scheitern“.

Aufständische teilen ihre Beute mit Soldaten

Ende Mai 1998 beschloß Chikoko, am 1. Oktober den Austritt des Niger-Deltas aus Nigeria zu verkünden. Das waren offenbar nicht nur leere Worte. Seit Anfang Oktober scheint sich das Niger-Delta tatsächlich im offenen Aufstand zu befinden, obwohl Abachas Nachfolger Abdulsalam Abubakar eine Demokratisierung eingeleitet hat. Durch koordinierte Angriffe bewaffneter Gruppen auf Rohöl- Pumpstationen ist über ein Viertel der nigerianischen Ölproduktion von zwei Millionen Barrel am Tag und ein Drittel des Ölexports lahmgelegt. Hauptziel der Angriffe ist Shell, das derzeit die Hälfte seiner Tagesförderung von 800.000 Barrel verliert.

Die Angriffe gehen größtenteils von Jugendlichen des Ijaw-Volkes aus, größte Ethnie des Niger-Deltas und viertgrößte Ethnie Nigerias. Am 9. Oktober erklärte der nationale Ijaw-Dachverband, die Sicherheit ausländischer Mitarbeiter von Ölfirmen im Niger-Delta könne ab 12. Oktober nicht mehr garantiert werden, woraufhin Shell mit der Evakuierung von Mitarbeitern begann.

Die Ijaw-Proteste haben einen ethnischen Unterton, der die Gefahren einer weiteren Eskalation deutlich macht. Ijaw-Gruppen um Warri im Westen des Niger-Deltas rekrutierten bereits 1996 Ijaws aus dem Osten, um ihnen bei lokalen Streitereien mit anderen Volksgruppen zu Hilfe zu kommen. Die Ijaw-Stoßtrupps sicherten sich das Stillhalten der Militärs, indem sie sich geplünderte Güter mit den Soldaten teilten. Auf diese Weise stiegen Ijaw-Milizen ungehindert zu den Herren über weite Sumpfgebiete um Warri auf. Mehrmals mußte Nigerias Kriegsmarine gegen sie eingreifen. Gegen neuerliche Vertreibungen anderer Völker – 30.000 Angehörige des Ilaje-Volkes sind vor den Ijaws Richtung Lagos geflohen – ist das Militär machtlos.

Mittlerweile ist die Autorität des Staates im Niger-Delta praktisch zusammengebrochen. Als aus Ogoni-Kreisen die Forderung laut wurde, Ken Saro-Wiwas Leichnam an seine Familie zurückzugeben, um ihn ordentlich zu bestatten, reagierte die örtliche Militärverwaltung mit der Anordnung eines einwöchigen Fastengebets, auf das ein Versöhnungsgottesdienst folgen sollte. „Am Ende des Gottesdienstes werden mindestens zehn Ihrer Vertreter gebeten, ein Friedensabkommen zu singen.“