Wurzelwunder gegen Gringo-Spätfolgen

■ Seit Jahren pflanzt der niedersächsische Ökobauer Michael Ohl Neem-Bäume für das Hilfswerk Haiti. Ein Porträt

Manche paddeln in den Ferien zu Eisbergen, andere fliegen zu Wüstenfüchsen, und die ganz anderen radeln zu den Osterholz-Scharmbeckern. Michael Ohlen dagegen flog dieses Jahr für zwei Monate nach Haiti. Das tut er übrigens schon das zweite Mal. Richtige Ferien sind das nicht. Statt die Magenschleimwände mit Cocktails zu malträtieren, mutet er lieber seiner Wirbelsäule etwas zu: Bäumepflanzen. 12 bis 15 Hektar pro Jahr forstet er mit der Unterstützung von 220 haitischen ArbeiterInnen auf – genauer: wieder auf. Denn bis zu den 20er Jahren war Haiti so grün wie Irland. Bis die Gringos kamen. Immer wieder die. Aber gleich 220 Leute, um das Ökodesaster auszumerzen? Dochdoch, die braucht es, weil das Bewässern so aufwendig ist. 180 Menschen sind mit nichts anderem beschäftigt als mit Wassereimerschleppen. Das Grundwasser hat sich nämlich in Haiti in eine Tiefe von 55 Metern in den Erdboden verkrochen.

Wie verschlägt es einen 32jährigen wuppertalischen Neuniedersachsen nach Haiti? „Ein Stück weit Zufall.“ 1990 reiste Ohl nach Jamaika, im Geldbeutel – Vorurteil, Vorurteil! – das karge Budget für ein Drittweltland. Doch in Jamaika kostete eine Übernachtung mindestens 60 Mark. Zu teuer für einen deutschen Psychologiestudenten. So landete er im Slum von Montego Bay und lachte brüderlich arm und glücklich mit JamaikanerInnen. Als eine Typhusepedemie ausbrach, staunte er nicht schlecht, welche kriminelle Ahnungslosigkeit in Sachen Hygiene vorherrschte. Kurzerhand schwang er des Abends nach dem Markt den Besen, um seine neuen BekanntInnen zum Entfernen des gammligen Gemüses und fliegenumschwirrten Fleisches zu motivieren. Auch verwandelte er sich kurzfristig in einen Maler und pinselte auf Klowände urdeutsche Ermahnungen zum Händewaschen. Braucht man mancherorts millionenschwere High-tech-Maschinen, um Nieren und Herzen zu retten, so genügen auf der anderen Seite des Erdapfels ein paar läppische Handgriffe: Ein Schlüsselerlebnis für Michael Ohl.

Ein zweites Schlüsselerlebnis war das Scheißwetter bei der Rücckehr ins winterliche Norddeutschland, außerdem das gewohnheitsrechtlich verankerte Maulen der Deutschen den Fleck auf der Banane, den Kratzer im Auto und und den Elfmeter im Fußball. Das Resultat waren Fluchtgedanken. Die lenkte der betagte Onkel Hans-Joachim in definitiv ungeordnete Bahnen. Man muß sich das etwa so vorstellen: Irgendwann im Jahr 1991 brechen ein 25jähriger Orientierungssuchender und ein 70jähriger Lebensabschlußplaner in einem gebrauchten VW-Bus auf, um in fünfzehn europäischen Ländern je einen Hektar Wald zu pflanzen. Sie streiten sich dabei mit dem amtierenden Bürgermeister von Sofia herum, lassen sich die Lebensgeschichte eines zypriotischen Hirten erzählen, klopfen zwei Wochen wie blöde auf den widerspenstigen Boden vor der Athener Uni ein und betreiben ihre ökologische Wühlarbeit in der Türkei sogar unter Polizeischutz: die optimale Verbindung von praktischem Soziologiestudium, Reisevergnügen und guter Tat.

Nach Abschluß einer Gärtnerlehre konnte Ohl seine Kompetenz in Sachen Baumwuchs, Lebenserfahrung und Überlebenstechnik ins „Hilfswerk Haiti e.V.“ einbringen. Das kleine Ein-Mann-und-seine-Schwester-Unternehmen engagiert sich vor allem für Schulbildung, Medikamentenversorgung und eben für Aufforstung auf Haiti, das mit einer Analphabetenquote um 80 % und einer Lebenserwartung von circa 46 Jahren zu den Ärmsten unter den armen Ländern zählt.

Gegründet wurde das Hilfswerk 1987 von Gerhard Hoffmann. Der Segelfanatiker, Yuppie und Betreiber eines Rechtsbeistandsbüro machte statt einer Midlifecrises eine Art Saulus-Paulus-Auswechslung durch. Katalysator war der Tod der Mutter. Jetzt lebt er im Jahr zwei Monate lang gutbürgerlich in Hamburg und zehn Monate in einer Hütte in Haiti. Den eigenen Lebensunterhalt und die Bürokosten für das Hilfswerk finanziert er durch die Mieteinnahmen von zwei Häusern. So fließt jeder Spendenbeitrag unmittelbar in die Projekte. Für Ohl DAS Argument ehrenamtlich miteinzusteigen.

Jetzt also setzt er mit 50-prozentiger EU-Unterstützung Jahr für Jahr zwei Monate seine Neem-Bäume. Zuhause in Bruchhausen-Vilsen, 40 km südlich von Bremen, arbeitet er eigenverantwortlich als Biobauer. Locker ein 50-Stunden-Job. Die Neem-Bäume treiben in guten Jahren zehn Meter Fallwurzeln in den Boden. Sinn des ganzen Projekts ist, daß diese Wurzelwunder irgendwann mal das Grundwasser erreichen, Teile davon nach oben saugen und damit das Anpflanzen von Obstbäumen und Gemüse ermöglichen. Noch ist es aber nicht soweit.

So manche Entwicklungshilfeorganisationen schätzen die ökologisch-ökonomische Lage in Haiti für so aussichtslos ein, daß sie in zynischen Momenten am liebsten drei der sieben Millionen Einwohner weghungern lassen wollten, erzählt Ohl. „Eine Einstellung, die man allerdings schnell aufgibt, sobald man es mit Menschen aus Fleisch, Blut, Pickel und Lachen zu tun hat.“

Seine Beziehung zu den 220 Mitschuftern ist sehr gut, echt freundschaftlich allerdings nicht. So sehr man sich anstrengt, „man unterhält sich nicht gleichberechtigt, sondern gibt immer Lehrstunden, zum Beispiel darin, wie die Welt außerhalb Haitis aussieht.“ Die etwa 10.000 Einwohner von Ohls Standort, Ti Rivière, bauen ihre Hütten in 100 Meter Abstand zueinander. Wegen Abwesenheit von Arbeitsplätzen spielen die Leute Domino, quatschen, versuchen – meist vergeblich – Gemüse aufzupäppeln oder sind einen ganzen halben Tag lang beschäftigt Wasser aus der 10 Kilometer entfernten Quelle anzuschleppen.

Wenn sie reden, dann sprechen sie nicht über Heidegger, Tagespolitik oder Kindererziehung, sondern beschreiben einfach das, was sie und ihr Gegenüber gerade ganz offensichtlich tun. Also: Wenn sie im grünen Hemd Domino spielen, teilen sie mit, daß sie gerade im grünen Hemd Domino spielen: Kommunikationsstrukturen, die die Sache mit der Demokratisierung vermutlich nicht gerade einfach machen, meint Ohl.

Im Juni dieses Jahres hat das Hilfswerk für sein Aufforstungsprogramm einen von 17 UNO-Umweltpreisen bekommen (siehe Bild links). Vorgänger waren immerhin Leute wie Ken Saro Wiwa, Jacques Cousteau und Jimmy Carter. Geld erhielt man keines, aber immerhin die Möglichkeit, leichter an Spenden zu kommen und – so Ohl – „von der taz interviewt zu werden“. Was für ein schönes Schlußwort.

Barbara Kern

Kontakt zum Hilfswerk 040/516-506. Konto-Nr. 1009-211218 BLZ 200 505 50 Haspabank