Plötzliche Erkenntnis einer Berufstätigen Von Carola Rönneburg

In einem Junggesellinnenhaushalt ändert sich allerhand, wenn die beste Freundin mit dem sechsjährigen Sohn zu Besuch ist. Bereits nach wenigen Stunden war die Besteckschublade keine Besteckschublade mehr, sondern ein geheimes Geheimversteck von Playmobilindianern, die von hier aus die Angriffe berittener Piraten niederschlugen. Eben noch hier untergebrachte Gabeln lagen nun ineinander verhakt auf dem Fußboden des Wohnzimmers, da sie zum Bau eines Gummitiergeheges benötigt worden waren, und hinter der panzerverglasten Tür des Tresors – vormals: Waschmaschine – tauchte der verschwundene Krimi mit dem golden schimmernden Einband auf.

Der Sechsjährige verwandelte nicht nur Haushaltsgegenstände, sondern auch sich selbst. Mal war er ein Bote im Auftrag des Pharaos, der einen kompliziert gefalteten Brief überbrachte, darin die mit Buntstift geschriebene Nachricht: „PILOT“. Eine Rückantwort wollte er jedoch nicht annehmen, weil er zwar ein Bote, jedoch kein Dienstbote war. Ein anderes Mal trug er eine Gardinenstange aus Messing vor sich her – sein Zepter – und verlangte Auskunft über die Vorgänge im Königreich, war aber auch gleichzeitig von der Polizei und überprüfte die Papiere aller Anwesenden. Anders als er durften wir keine Zettelchen oder Servietten als Dokumente ausgeben. Die Ordnungsmacht zeigte sich unnachgiebig und wollte echte Personalausweise und echte Führerscheine sehen, die dann eben aus den Taschen im Flur herausgekramt und vorgewiesen werden mußten. Gemeinsam war all seinen Gestalten allerdings ihr Fanfarenschrei, eine durch die Lippen gepreßte Melodie, die zu meiner Zeit das Eingreifen der siebten Kavallerie ankündigte.

Zur Schlafenszeit wünschte der Knabe eine Geschichte von mir zu hören. Sie sollte ein bißchen – aber nicht zu sehr! – gruselig sein, mit Schatzsuche und Piraten und hohem Seegang. Ich erzählte und staunte: Er schenkte mir seine volle Aufmerksamkeit. Bis der einbeinige Kapitän sicher und reich nach Hause zurückgekehrt war, hielt sich mein Zuhörer wach. Dann rollte er sich zusammen und schlief ganz plötzlich ein. Das sei ganz normal und auch sehr praktisch, versicherte mir meine Freundin, die inzwischen eine Flasche Wein für uns geöffnet hatte.

Am nächsten Tag, als ich im Büro saß und in meiner Tasche nach dem Terminkalender kramte, fand ich dort drei in Seidenpapier eingewickelte Glasmurmeln: ein Geschenk! Und als ich am Abend meine Wohnungstür aufschließen wollte, da wurde sie auch schon aufgerissen. Ein kleiner Herr mit riesigem Hut und Holzschwert empfing mich mich mit einer Fanfare und zerrte mich über die Schwelle. Meine Freundin erwartete mich in der Küche. Sie rührte eine lecker duftende Suppe um, drückte mir ein Glas Sekt in die Hand und sagte, ich solle mich hinsetzen. Das tat ich, nachdem ich ein paar Matchboxautos von meinem Stuhl geräumt hatte. Kurze Zeit später speisten wir zu dritt und berichteten reihum, was wir an diesem Tag erlebt hatten. Wir wogen das Für und Wider beruflicher Selbständigkeit ab und diskutierten danach über Wikinger. Und in diesem Moment, wo alles paßte und gut und richtig war, wünschte ich mir nur eines: Ich wollte Vater werden.