Mainstreams Tabubruch

In einer „Extra-Nacht“ zeigt das Gesundheitsmagazin „Praxis“ erstmals eine Leichenöffnung (0.15 Uhr, ZDF)  ■ Von Georg Seeßlen

Das Fernsehen möchte wieder einmal Tabus brechen.

Samstag abend gab es bei RTL-„explosiv“ „erstmals im deutschen Fernsehen“ die Obduktion einer Leiche durch einen Gerichtsmediziner zu sehen. Zwanzig Minuten mußten es dafür schon sein. Man begleitete den Pathologen Dr. Reinhard Motte in Miami bei seiner Arbeit. Immer wieder, wenn auch aus einer gewissen Rest-Distanz ist die Kamera auf den geöffneten Brustkorb eines ermordeten 18jährigen gerichtet. In Großaufnahme sehen wir immerhin die Einschußlöcher. Und hören beim Eingriff des Doktors mit der Zange auch gehörig die Knochen krachen. Und damit wir nicht glauben, es handele sich um so etwas wie eine rein wissenschaftliche Dokumentation, erlaubt sich die Kamera ein paar Zwischenschnitte auf die nackten Beine des Toten, die wie versehentlich aus der Decke ragen, darauf die Eimer, in die Doktor Motte die entnommenen Organe gibt. Sonntag nacht ging Sat.1 mit seiner Reportage „24 Stunden“ an einen näher gelegenen Tatort. Titel: „Endstation Wien – Die Leichen aus der Sensengasse“. Am Montag dürfen wir auf Vox dem Krebskranken Herbie Möwes beim Sterben zusehen. Sozusagen das melodramatisch softe Seitenstück zum harten Stoff. Danach gibt es – was sonst? – eine Diskussionsrunde zum Thema „Der öffentliche Tod – Darf das Fernsehen ,Sterben‘ zeigen?“ Wenn das Fernsehen sich selber unheimlich wird, veranstaltet es eine Talkrunde.

Dann aber zurück zum Heavy Stuff, diesmal in der öffentlich- rechtlichen Version. In der „Extra- Nacht“ des ZDF-Gesundheitsmagazins „Praxis“ wird heute die gerichtsmedizinische Obduktion einer männlichen Leiche, eines Selbstmörders, zu sehen sein.

Dem „Zeitgeist“ geschuldet...

Schnell werden die vorauseilenden Sensationsmeldungen der Boulevardpresse konterkariert. Aber natürlich wirbt auch das ZDF in seiner Pressemeldung mit dem Tabubruch: Für die meisten sei „diese Seite der Medizin ein Tabu par excellence: ein gesellschaftlich besonders geschützter Bereich, der sich wie in den ursprünglich tabubildenden Staaten um all das rankte, was mit Tod zu tun hat“.

Wenn die denkwürdige Häufung von Sendungen um diesen medialen Tabubruch kein Ergebnis von Planung und Konkurrenz ist, dann muß sie wohl wieder mal dem „Zeitgeist“ geschuldet sein, daß die Kamera – endlich! – einem toten Menschen in den Körper fährt. Und natürlich ist der Aufwand der wissenschaftlichen Rechtfertigung groß. Damit, daß sich einer einen weißen Kittel anzieht, wie in den „Aufklärungsfilmen“ der 70er Jahre, ist es nicht mehr getan. Der ZDF-Pressetext kommt zum Schluß denn auch zu einem hinreißenden Rechtfertigungsschwurbel: „Vom Erstbefund am Tatort bis zur Exhumierung: das realistische Profil eines Faches, ohne das kein Rechtsstaat dieser Welt Bestand hätte.“ Als dürften wir unsere kranke Neugier noch als Rettungstat für den Rechtsstaat feiern! Was aber ist der Rechtsstaat, wenn nicht die rationalisierteste und zivilisierteste Organisation des Tabus? Eben jener Staat, dem derselbe Text zu Beginn die Fähigkeit zur Tabubildung abgesprochen hat.

Das Tabu ist erstens ein Handlungsverbot, das meist davon handelt, was man essen darf und was nicht, und was man als sexuelles Objekt wählt. Du sollst deinen Dackel weder auffressen noch mit ihm Geschlechtsverkehr treiben. Zweitens ist das Tabu ein Abbildungs- und Blickverbot. In aller Regel ist es noch verboten, nackt herumzulaufen oder irgendwelchen Göttern Pappnasen aufzusetzen. Und drittens schließlich ist das Tabu ein Sprechverbot. Man darf nicht einfach alles überall sagen.

...und einen Blickzwang konstruierend

Wenn uns die Geschichte des Tabus etwas lehrt, so dies: Es hat, so verrückt oder willkürlich es auch erscheinen mag, stets seinen sozialen und kulturellen Sinn. Der Trick der „aufklärerischen“ Tabubrecher in den Mainstream-Medien ist es indes, das Tabu ganz einfach mit „Verdrängung“ gleichzusetzen. (Und Verdrängung, das wissen wir, ist gesundheitsschädlich.) Dabei ist das Tabu kein Nicht-wissen- oder Nicht-sehen-wollen, sondern eine gesellschaftliche Kollektivleistung.

Natürlich konnte, wie das Tabu zu jeder Zeit, auch der Tabubruch zur Waffe der Unterdrückten werden, zur Dynamisierung der Kultur, er steht im Zentrum des Mythos. In einer Welt ohne Tabus gibt es nichts mehr zu erzählen. Offenbar gehört der gezielte Tabubruch zur Auseinandersetzung der Minoritäten mit der Majorität (ideologisierbar von beiden Seiten; vielleicht ist es ja bald eine lässige Peinlichkeit, wenn Menschen auf offener Straße kopulieren, während jemand, der sich öffentlich eine Zigarette anzündet, gesteinigt wird), zur Auseinandersetzung der Geschlechter und Generationen.

Neu ist also keineswegs der Tabubruch. Neu ist etwas anderes: Der Tabubruch kommt nicht mehr als skandalöse, provozierende Inszenierung daher (wie er es zum Beispiel in der Kunst gerne getan hat), sondern als stumpfe, allseits schon zu Tode beredete und abgesicherte Gewöhnlichkeit. Und der Tabubruch geht nicht mehr von einer revoltierenden künstlerischen, wissenschaftlichen, politischen oder religiösen Minorität aus, sondern wird im Zentrum des Mainstream selber inszeniert. Das heißt: der Tabubruch ist in dieser Form zugleich sein Gegenteil: die Konstruktion eines Blickzwangs. Nicht das Tabu des Todes wird gebrochen, sondern ein neuer, wissenschaftlich-rationalistischer Totenkult errichtet, der sich von den vorhergehenden durch seinen radikalen Verzicht auf Transzendierung und vollständigen Verlust der (ohnehin nur mythisch konstruierten) Integrität und Würde des Menschen unterscheidet.

Auch ein solcher Vorgang ist weder sinnlos noch willkürlich. Sehen wir von dem durch Konkurrenzdruck gesteigerten Zynismus der Medienmacher ab (und vor allem: glauben wir ihnen kein Wort von ihren Legitimationsreden!), so muß dieses zum Fetischhaften gesteigerte Interesse am Inneren des Körpers und an den Stadien seines Zerfalls ein treffliches Bild unserer kulturgeschichtlichen Entwicklung abgeben. Denn auch dies lehrt die Geschichte des Tabus: Die Abschaffung des einen ist immer Ausdruck der Konstruktion eines anderen. Unser Blick richtet sich offensichtlich so manisch und kalt auf den Körper als Objekt der Zerstückelung, weil es anderswo nichts mehr zu sehen gibt. Ohne Projektion bleibt nur die Introspektion, der Blick des Menschen, der nichts mehr zu hoffen wagt.

Und bei alledem, wir dürfen nicht davon absehen, auch wenn es sich schon als Gemeinplatz anhört, ist dieser vom Mainstream organisierte Tabubruch ja auch zuförderst eine Ware, die sich auf den freien Markt der Bilder wirft. Dieser freie Markt (der ZDF-Pressetext formuliert es in schöner Klarheit) hat sich auch von seinen gesellschaftlichen Bindungen und vom Staat als Gemeinschaft der Tabubildung befreit. Aber nicht etwa in der Form, daß man dem Zensor entkäme, sondern in dem Sinne, daß solche moralische und ästhetische Deregulation politisch gewollt ist. Menschen, die in panischer Angstlust ins Innere eines geöffneten Körpers schauen, werden blind dafür, was in ihrer Welt geschieht. Weil der Körper nicht mehr in einer historischen, sozialen und emotionalen Bewegung erfahrbar ist, läßt er sich nur noch als Objekt der Schaulust rekonstruieren. Derweil wird, was „draußen“ geschieht, die Vernichtung des Menschlichen durch Ökonomie, selber zum größten aller Tabus.

So wäre es wohl töricht und reaktionär, einfach für die Aufrechterhaltung der Tabus zu plädieren. Genauso töricht und reaktionär aber ist es, auf die Inszenierung der Mainstream-„Tabubrecher“ hereinzufallen und die Gewöhnlichkeit des Skandalösen als aufklärerischen Fortschritt zu feiern.