Geschichten aus dem alten Berlin

■ Kommunarde, Eierwerfer oder Einzelkämpfer: In "Leisten Sie keinen Widerstand" erzählt Dieter Kunzelmann aus seinen vielen Leben

Der Aktionspolitologe war ein Starrkopf. Während seine alten Genossen längst ihren Frieden mit dem sogenannten System gemacht hatten, machte Dieter Kunzelmann weiter bis an sein vermutliches Ende am 1. April dieses Jahres, an das zunächst niemand glauben wollte. Inzwischen ist ein halbes Jahr vergangen, und obgleich immer mal wieder jemand berichtet, er habe jemanden getroffen, der Kunzelmann irgendwo in einer Kneipe gesehen habe, gehen die meisten davon aus, daß sich der ehemalige Situationist, Kommune-1-Gründer, Straßenkämpfer, Maoist, AL-Politiker, Eierwerfer, Haschischfreund und ewige Querulant tatsächlich das Leben genommen hat.

Im Dezember letzten Jahres war er ein letztes Mal überraschend beim Transit-Verlag in Kreuzberg aufgetaucht und hatte allerlei Dokumente und handschriftliche Manuskripte übergeben, die nun als Buch unter dem Titel „Leisten Sie keinen Widerstand! Bilder aus meinem Leben“ erschienen sind. Detailreich und manchmal überraschend selbstironisch erzählt Kunzelmann seine Geschichte: Situationistische Internationale Anfang der sechziger Jahre, Kommune 1, in der auch Jimi Hendrix mal zu Gast war, Haschrebellentum, ein paar Monate bei al-Fatah im Ausbildungslager, in dem er lernte, daß Waffen nicht sein Ding sind; fünf Jahre Knast in den Siebzigern, ein Intermezzo bei der KPD, zwei Jahre emsiger AL-Abgeordneter; am Ende ein kauziger Aktionspolitologe, der den mediokren Berliner Bürgermeister Diepgen manisch mit brandenburgischen Landeiern verfolgte, was ihm ein halbes Jahr Knast einbrachte, die er dann nicht mehr absaß.

Stolz vermerkt der gebürtige Bamberger Sparkassendirektorensohn, daß seine Geburtsstunde mit dem Beginn des Sturms auf die Bastille 150 Jahre zuvor übereinstimmt. Anders als die meisten seiner Generationsgenossen hätte er in seiner Familie „Liebe, Solidarität und Toleranz“ erfahren.

Die Jugend verlief rebellentypisch: 1956 war er Bayerischer Jugendmeister im Tischtennis, dann blieb er zweimal sitzen und begann eine Banklehre. Der junge Rotschopf war eine echte Leseratte – „kein Autor, kein Bücherschrank war vor mir sicher“ – und ging auch gern ins Kino. „Naiv und ungestüm erlebten wir Literatur, Film und Musik als Anregung und Maßstab für unser eigenes Leben.“ Im Gegensatz zu den später geborenen 68ern, die mit den Autoren der Beatgeneration groß wurden, ließ er sich von Proust und den französischen Existentialisten inspirieren. 1959 ging er für ein Jahr nach Paris, wo er, angezogen vom Leben der Gescheiterten und Ausgestoßenen, als Clochard von Pflastermalereien und Gelegenheitsjobs lebte und „die gängigen Lebensängste“ abschüttelte.

In München begann dann 1960 sein eigentliches Wirken: Im Sommer schließt er sich den Malern der mit der Situationistischen Internationale assoziierten Künstlergruppe „Spur“ an. Es ging darum, der herrschenden „Kultur der Absorption und Vermarktung menschlicher Ausdrucksformen“ Widerstand entgegenzusetzen. Einige der zwischen Dada, Marx, Freud, Existentialismus und Kritischer Theorie pendelnden Manifeste der Gruppe tauchten übrigens während der Studentenproteste an der Freien Universität im letzten Jahr wieder auf. Eine Nummer der Zeitschrift Spur wurde wegen eines gotteslästerlich-pornographischen Textes von Kunzelmann beschlagnahmt.

1962 wird die Gruppe „Spur“ aus der Situationistischen Internationale ausgeschlossen. Kunzelmann gründet die „Subversive Aktion“, die ihn ihrerseits 1966 ausschließt. Der „Homo Subversivus hat sich entschieden, alle Möglichkeiten des Menschlichen hic et nunc im lebendigen Vollzug experimentell zu realisieren“, heißt es in einem Text der Gruppe, in der es ähnlich anstrengend zugegangen sein muß wie in den 30 Monaten der im Januar 1967 gegründeten Kommune 1, die das Kleinfamilienmodell ablösen sollte.

Das romantische Thema des beispielgebenden experimentellen Lebensvollzugs sollte Kunzelmann bis an sein Ende begleiten. Schon Anfang der sechziger Jahre hatte er erkannt, „daß meine schöpferische Begabung (...) im Kreieren von Happenings und Aktionen lag, die, im Moment ihres Entstehens, etwas Unerwartetes und zugleich Flüchtiges hervorbrachten, das sich durch seine Einmaligkeit dem Gedächtnis der Zeit (...) einprägte“, was dann auch geschah: Sein bekanntester Kommune-1- Ausspruch – „Was geht mich die Weltrevolution an, wenn ich Orgasmusprobleme habe“ – wurde zum Motto der alternativen Lebendigkeitsversuche in WGs und Kommunen, das geplante Puddingattentat auf den US-Vizepräsidenten Humphrey stand wie die Aktion, bei der er 1967 anläßlich des Staatsaktes zur Beerdigung des ehemaligen Reichstagspräsidenten Löbe plötzlich aus einem Sarg stieg, für das ganzheitliche Politikkonzept der undogmatischen Linken, die sich weigerte, der herrschenden Politik auf deren Feldern zu begegnen. Der actionbetonte Einzelkämpfer der neunziger Jahre schließlich schien seine reale politische Ohnmacht durch großen Einsatz wettmachen zu wollen.

Der existentielle Einsatz, mit dem er am 11. Oktober 1993, zum Spatenstich von Daimler City, auf die Kühlerhaube des Regierenden Bürgermeisters Diepgen sprang und später im Gerichtssaal ein Ei auf dem Kopf seines Lieblingsfeindes zerdrückte, erinnerte dabei gleichzeitig an die frühen russischen Anarchisten, die sich aus moralischen Gründen bei ihren Attentaten selber mit in die Luft zu jagen pflegten, und an altgewordene Popstars, die bis an ihr Lebensende die alten Hits zu spielen gezwungen sind. Für ihn waren es „Sekundenerlebnisse, in denen die hohle Wohlgeordnetheit ritueller Abläufe ins absolute Chaos hinabstürzt, die das Leben eines Aktionspolitologen so aufregend machen“; eines Künstlers, der das „Wagnis eines anderen Lebens“ auf sich genommen hatte und in dem Ostern 68, nach den drei Kugeln auf Rudi Dutschke, etwas „zerbrochen“ war.

Den meisten, die den lebenslangen Rebellen erst in den neunziger Jahren kennenlernten, schien er ein durchgeknallter und sehr anstrengender Mensch zu sein, ein ständig meckerndes Rumpelstilzchen, das mit seiner fränkisch meckernden Stimme gerne KellnerInnen zu beschimpfen pflegte. Ex- Freundinnen terrorisierte er auf eine Art, die nur im nachhinein lustig wirkt.

„Bilder aus meinem Leben!“ ist das neben Vespers „Reise“ vielleicht lehrreichste Buch eines 68ers. Die meisten – wunderschönen – Fotos des Bandes könnte man sich auch, großformatig nebeneinander gehängt, in einer Galerie vorstellen. Das wird so sicher kommen wie Kunzelmann – Der Film. Detlef Kuhlbrodt

Dieter Kunzelmann: „Leisten Sie keinen Widerstand!“, 210 Seiten, Transit-Verlag, Berlin 1998, 38 DM