"Wir sind jetzt die Regierung"

■ Am Bonner Koalitionsvertrag mäkelten die Berliner Grünen überraschend wenig. Unmut herrscht jedoch über MinisterInnen, die ihre Bundestagsmandate nicht zurückgeben wollen

Berlin (taz) – Freudige Aufbruchstimmung herrschte bei den Beratungen der Berliner Grünen über den Koalitionsvertrag der rot- grünen Bundesregierung. Was sonst als Routinesitzung von Landesausschuß und Delegierten der Bundeskonferenz in einem Hinterzimmer der Parteizentrale in Berlin-Kreuzberg stattfindet, war wegen des erwarteten Andrangs in einen größeren Saal verlegt worden. Über zweihundert Parteimitglieder fanden sich am Mittwoch abend ein, um sich aus erster Hand über die Verhandlungsergebnisse zu informieren.

Für Renate Künast, die Berliner Fraktionschefin, die den Vertrag mitverhandelt hatte, gab es Blumen und Beifall. „Renate, wir sind stolz auf dich“, sagte der grüne Vorstandssprecher Andreas Schulze. „Es waren sehr harte Verhandlungen. Ihr habt's gut gemacht, ihr habt's wie Profis gemacht.“ Künast, die von den Grünen nicht als Justizministerin durchgesetzt werden konnte, habe nicht verloren, sondern gewonnen, so Schulze. Gefeiert wurde auch die designierte Gesundheitsministerin Andrea Fischer, die mit Künast die Verhandlungsergebnisse vorstellte.

Künasts Resümee lautete: „Wir haben unsere grüne Seele nicht verkauft.“ In den drei Kernbereichen Ökosteuer, Atomausstieg und Staatsbürgerschaftsrecht seien Ergebnisse erzielt worden, mit denen die Grünen sich sehen lassen könnten. „Das ist natürlich kein grünes Traumprogramm“, so Künast. „Aber das ist kein grünes Forderungsprogramm an eine Regierung. Wir sind jetzt die Regierung“, stimmte sie die Delegierten auf die neue Rolle ein.

Eine aufgekratzte Andrea Fischer sagte, sie sei „stolz und glücklich“, daß es durch das Staatsbürgerschaftsrecht ein anderes Klima im Land geben werde. Sie habe „größten Respekt“ vor der Aufgabe, die sie übernehme. „Das wird ein steiniger Weg.“ Aber es lohne sich, dafür zu arbeiten, daß die Republik in vier Jahren anders aussehe.

Gemäkelt wurde an dem 70seitigen Papier überraschend wenig. Selbst der Parteilinke Jochen Esser war voll des Lobes: „Ich bin positiv überrascht. Der Koalitionsvertrag sei „viel rabiater und radikaler“, als er erwartet habe. Über 70 „höchst positive“, konkrete Maßnahmen habe er gezählt und sich gefragt: „Hält es dieses Land überhaupt aus, daß 70 Maßnahmen umgesetzt werden, die Jochen Esser gut findet?“ Doch gebe es auch Wermutstropfen. Bitter sei vor allem, daß keine Veränderung der Asylpolitik durchgesetzt werden konnte. Esser nannte damit einen Punkt, den viele Berliner Grüne als besonders schmerzlich empfinden. Er plädierte dafür, in einem halben Jahr eine außerparlamentarische Initiative mit den Kirchen zu starten, um humanitäre Lösungen durchzusetzen. Auch von anderen Grünen hieß es, dies sei trotz grüner Regierungsbeteiligung kein Widerspruch.

Während das Vertragswerk auf breite Zustimmung stieß, herrschte erheblicher Unmut darüber, daß die grünen MinisterInnen ihr Bundestagsmandat nicht niederlegen wollen. Da rückte selbst die Unzufriedenheit über die Nichteinhaltung der Frauenquote bei den Ministerposten in den Hintergrund. In einer erregten Debatte sprachen sich ausnahmslos alle RednerInnen dafür aus, an der Trennung von Amt und Mandat festzuhalten. Abgeordnete, die zugleich MinisterInnen sind, könnten nicht die Regierung kontrollieren, hieß es. Die frühere Berliner Fraktionschefin Sybill Klotz sagte: „Es ist fatal, daß in der Öffentlichkeit der Eindruck entsteht, daß bei den Grünen gewisse Prinzipien nicht mehr gelten, sobald sie an der Regierung sind.“

Und auch der langjährige Fraktionsvorsitzende Wolfgang Wieland mahnte: „Da, wo wir ein Beispiel gegeben haben, sollten wir dies nicht aufgeben, sonst löst dies einen gesellschaftlichen Rückschritt aus.“ Ein „Sonderopfer“ von Andrea Fischer lehnte Wieland wie nahezu alle RednerInnen ab. Als zusätzliches Argument für die Trennung von Amt und Mandat führte er ins Feld, daß für Andrea Fischer mit Marianne Birthler eine Politikerin aus dem Ostteil der Stadt nachrücken könne. Birthler selbst sprach sich aber dagegen aus, die Frage von der Person der Nachrücker abhängig zu machen. Es gehe um das Prinzip.

Die Linie, wonach alle oder keine der drei grünen MinisterInnen ihr Mandat zurückgeben sollte, wurde mit einer breiten Mehrheit verabschiedet. Andrea Fischer erklärte, den Beschluß über die Trennung von Amt und Mandat müsse die Bundesdelegiertenkonferenz treffen. Sie werde sich an den Beschluß halten, lehnte einen Alleingang ihrerseits aber entschieden ab. „Ich beharre auf Gleichbehandlung.“

Bei der Bundesdelegiertenkonferenz heute und morgen in Bonn wird in dieser Frage eine kontroverse Debatte erwartet. Es liegen bereits mehrere Anträge vor, die die drei Minister zur Niederlegung des Mandats auffordern. Der Bundesvorstand beantragt dagegen, daß die Minister ihr Abgeordnetenmandat behalten. Dorothee Winden