■ Nebensachen aus Washington
: Dog City

„Gott segne dich und alle, die dich lieben, heute und alle Tage.“ Judith Davis sitzt in vollem Ornat vor dem Portal ihrer Kirche und nimmt den Kopf des ihr anbefohlenen Geschöpfs in die Hand, liebkost seine Ohren und langt nach einem Hundekuchen. Die so gesegneten heißen Chocolate-Chip und Beauregard, Ceasar und Diesel, Panther und Bruno.

An diesem schönen herbstlichen Sonntag nachmittag segnet die Pfarrerin von der Episcopal Church auf Washingtons Capitol Hill Hunde. Etwa 35 sind mit ihren Herrchen und Frauchen gekommen, vier Katzen — vor der Übermacht der Hunde in ihren Käfigen geschützt — sind auch dabei, und ein paar Stofftiere werden gleich noch mitgesegnet.

„O Herr, der Du auf Deine Schöpfung herabgesehen und sie für gut befunden hast, wir danken Dir für die Tiere, mit denen wir diese Erde teilen, und besonders für jene, die Du in unsere Obhut befohlen hast“, betet Judith. Dann befiehlt sie den Segen auf die Berge und Seen des Landes, auf die Bäume und Parks dieser Stadt und auf all jene unserer Freunde, die von uns gegangen sind. An dieser Stelle legt sie eine Pause ein, und jeder darf den Namen eines verstorbenen Freundes nennen: „Toby, Harry, Global, Scotch,“ rufen Mitglieder der Gemeinde in die Stille, und manche Träne fließt dabei, die den anschließende Gesang etwas zitterig klingen läßt.

Seit zwei Jahren segnet Judith zum Tag des heiligen Franz die Tiere der Nachbarschaft. An den Bäumen der Parks und Alleen geheftete Zettel kündigen das Ereignis an, und die Hundehalter kommen aus der ganzen weitläufigen Nachbarschaft. Hunde haben für Washington und vor allem für den Capitol Hill Distrikt besondere Bedeutung.

In einer Stadt, in der die Menschen früh zur Arbeit gehen und spät nach Hause kommen, bliebe wenig Zeit für nachbarschaftliche Kontakte — gäbe es nicht die Hunde. Die Parks dieses Stadtteils werden durch die Hunde zum öffentlichen Raum, und das abendliche Konklave der Hundebesitzer gleicht der Passegiata auf einer italienischen Piazza. Hier bändelt man an und knüpft Kontakte, hier trifft man sich und plaudert, hier tauscht man Erfahrungen und schüttet sein Herz aus.

„Das ist ja Dog City“, sagte neulich mein Freund Scott Fletcher, als er von der U-Bahn kommend durch den Lincoln Park zu mir kam. „Eigenartig,“ sagte er sinnierend, „ich habe noch nie gesehen, daß Hunde verschiedener Rassen sich meiden. Rassismus muß wirklich ein rein menschliches, kein natürliches Phänomen sein.“

In dieser Gegend scheint es fast, als folgten die Herrschaften dem Vorbild ihrer vierbeinigen Freunde. Hundehalter müssen zu dem am besten integrierten Bevölkerungsteil dieser Stadt gehören. Verkehren sonst Schwarz und Weiß außerhalb der Arbeitswelt kaum miteinander, im Lincoln- und in den anderen Parks triumphiert die Integration und die Gleichstellung der Rassen. Hunde machen die Gegend auch sicherer. Wenn ich oder meine Frau spät abends von der U-Bahn kommend am Ende einer der dunklen Alleen schattenhafte Gestalten sehen, löst sich die Spannung, wenn wir erkennen, daß sie Hunde an der Leine führen.

Die Bewohner von Capitol Hill wissen, was sie ihren Hunden schulden, und machen sie zum Bestandteil ihrer Riten, Gebräuche und Feste. Am kommenden Samstag ist hier Halloween, die amerikanische Version von Allerseelen, ein Fest mit Geistern und Mummenschanz. Im Lincoln-Park trifft man sich mit Hund zum Howl- O-Ween. Der Hund mit der schönsten Verkleidung und dem klangvollsten Heulen soll prämiert werden. Peter Tautfest