„Die Grünen sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen“

■ Ralf Fücks, Vorstandssprecher der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung, über das Verhältnis der Partei zur rot-grünen Regierung, zur Positionierung der Grünen in der Gesellschaft und über die Notwendigkeit eines neuen politischen Grundkonsenses

taz: Die Politik der Bündnisgrünen verlagert sich in die Regierung. Welche Rolle verbleibt der Partei?

Ralf Fücks: Hoffentlich nicht nur die des Ausputzers, der die Regierungspolitik nachvollzieht. Die Partei darf jetzt nicht ins Kontrollieren und Kritteln verfallen, sondern muß eine eigenständige Rolle spielen. Sie muß die gesellschaftliche Debatte darüber eröffnen, wohin die Reise unter Rot-Grün gehen soll.

Und wohin soll die Reise gehen?

Der Koalitionsvertrag läßt ja viele Fragen offen. So will Rot- Grün die Gerechtigkeitslücke schließen, doch noch ist offen, wie soziale Gerechtigkeit künftig definiert werden soll. Ist es vor allem eine Umverteilung von Einkommen, wie es den klassisch sozialdemokratischen Vorstellungen entspricht, oder eine Umverteilung von Chancen, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen?

Diese Entscheidung wird doch durch die Regierung in den kommenden Monaten getroffen.

Das kann nicht allein Sache der Regierung sein. Zudem würde ich mich dabei nicht auf die deutsche Sozialdemokratie verlassen. Die hat den Schritt, den andere sozialdemokratische Parteien in Europa bereits vollzogen haben, noch vor sich. Der Wandel von einem etatistischen Wohlfahrtsstaat hin zu einem aktivierenden Sozialstaat, die Verlagerung weg vom Staat hin zur Bürgergesellschaft – das sind Themen, über die die Grünen die Debatte führen sollten. Dazu müssen sie sich öffnen, statt sich im eigenen Milieu zu bewegen. Sie müssen das Gespräch sowohl mit den NGOs wie mit den Industrie- und Handelskammern suchen. Rot-Grün muß ein reflexives Projekt werden.

Verläuft die Trennlinie der Positionen zwischen grün und rot?

Nein. Im Moment tobt der Klassenkampf in der SPD. Die Differenzen zwischen einem Hombach und einem Dressler sind viel größer als die Differenzen innerhalb der Grünen. Auch in den Gewerkschaften ist dieser Streit unentschieden. Hier müssen die Grünen in die Debatte eingreifen, sie müssen auch für sich selbst definieren, was Modernität heißen soll. Das gilt auch für das weite Feld der Technologien und Innovationen. Die Grünen müssen die Auseinandersetzung um die Schlüsseltechnologien der Zukunft führen. Bei der Gentechnologie öffnet der Koalitionsvertrag die Schleusen sehr weit. Das grüne Label ist dabei die Kennzeichenpflicht.

Das reicht nicht?

Man muß über die ethischen und ökologischen Grenzen der Machbarkeit diskutieren und darüber einen gesellschaftlichen Konsens neu finden. Das wäre eine spezifische Aufgabe der Grünen. Bei solchen Grundorientierungen ist auch die Heinrich-Böll-Stiftung gefragt.

Ethische Grundlagen der Technologien, Chancen- statt Verteilungsgerechtigkeit – das sind Auseinandersetzungen, die auch die CDU führt.

Das sind keine eindeutig parteipolitisch zuordenbare Fragen. Sie stellen sich der gesamten Gesellschaft. Die spezifische Positionierung der Grünen bestünde darin, eine Politik der sozialen Integration mit dem Anspruch bürgergesellschaftlicher Teilhabe und den Erfordernissen einer ökologischen Innovation zu verknüpfen. Diese Kombination würde keine andere Partei aufweisen.

Brauchen die Grünen ein Grundsatzprogramm?

Ich denke, daß es ansteht. Gerade wenn man sich den Anforderungen an eine Regierungspartei mit all den Kompromissen und Sachzwängen stellen will, muß man sich über langfristige Perspektiven neu verständigen. In den letzten Jahren hat sich nicht nur die Welt, sondern hat sich auch das Weltbild der Grünen so verändert, daß jetzt ein neuer Grundkonsens fällig ist.

Wie sieht dieser neue Konsens aus?

Der darf nicht in einem weltanschaulichen Sinn definiert werden, denn die Grünen sind keine Weltanschauungspartei mehr und sollen es auch nicht wieder werden. Aber sie müssen Grundwerte und Leitbilder einer gesellschaftlichen Entwicklung entwerfen, an der sie ihre Politik messen. Die Grünen müssen ihren Platz neu bestimmen. Sie haben ihre gesellschaftliche Randrolle längst verlassen. Sie sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Da ist doch schon Schröders SPD ...

Nicht im Schröderschen Sinne einer Anpassung an den Mainstream. Die Grünen müssen unbequem bleiben und auf Veränderung drängen – aber sie agieren mittendrin. Man muß sich nur die Biographien, die Berufe und die Lebenspraxis unserer Mitglieder anschauen. Interview: Dieter Rulff, Bonn