Die knallbunten Farben sind einem zarten Pastell gewichen

■ Neue Sanftmut bei den Grünen: Ob in der Frage der Frauenquote bei der Postenverteilung oder beim Streit um die Bundestagsmandate der Minister - Kritik bleibt vorhersehbar folgenlos

Ist ein Grünen-Parteitag „ein unberechenbares Wesen“? Natürlich kenne er diese Einschätzung, sagt Joschka Fischer. Aber er wolle sie einfach nicht glauben. „Wir müssen eine neue Verantwortung übernehmen, und wir sind alle erwachsene Leute.“ Manche sagten, daß sich Unmut eben ein Ventil suchen müsse, und da sei ja vielleicht auch etwas dran. „Ich bitte euch, diesmal auf ein Ventil zu verzichten.“ Vereinzeltes, gutmütiges Gelächter – dann applaudiert der ganze Saal. Spätestens jetzt steht fest: Der Koalitionsvertrag wird die Rückendeckung des Parteitages der Grünen ohne Wenn und Aber bekommen.

Die Zustimmung zu der Vereinbarung ist dann später kaum mehr als eine Formsache. Ein dichter Wald von erhobenen Stimmkarten reckt sich in die Höhe. Die wenigen Delegierten, die mit „Nein“ stimmen oder sich enthalten, sind in der großen Bonner Beethovenhalle auf den ersten Blick fast nicht zu sehen. „Ich kann feststellen, daß mit übergroßer Mehrheit...“, sagt der Tagungsleiter. Der Rest des Satzes geht im frenetischen Jubel unter. Minutenlang wird die Verhandlungskommission oben auf dem Podium mit stehenden Ovationen gefeiert. An mangelnder Geschlossenheit von Bündnis 90/Die Grünen soll die erste rot- grüne Bundesregierung Deutschlands nicht scheitern.

Schon die Diskussionen über die einzelnen Teile der Koalitionsvereinbarung haben gezeigt, daß kaum jemand den Parteitag für den richtigen Zeitpunkt hält, sich über Detailfragen zu streiten. Freude und Erleichterung darüber, daß die Grünen trotz eines wenig glanzvollen Wahlergebnisses zu den Siegern zählen, beherrschen die Stimmung. Als Nörgler und Querulanten erscheinen den meisten Delegierten die wenigen, die sich der allgemeinen Begeisterung nicht anschließen wollten.

„Konsens ist Nonsens“, steht auf dem Spruchband, das von einer Abordnung des Antiatom-Plenums aufs Podium getragen wird. „Die Grünen als Partei stehen ab sofort auf der anderen Seite des Bauzauns. Deshalb können wir nur sagen: und tschüs!“ ruft eine Sprecherin verbittert über die Einzelheiten der Vereinbarung zum Ausstieg aus der Atomenergie. Die Reaktion: ein Pfeifkonzert. Es schwillt zu solcher Lautstärke an, daß der Tagungsleiter zur Ruhe mahnt: „Es wird nicht das letzte Mal sein, daß ihr euch mit kritischen Einwänden auseinandersetzen müßt!“

Aber doch nicht jetzt. Ernste Konflikte drohen auf dem Parteitag nur im Zusammenhang mit einem einzigen Thema: der Machtfrage. Ob die Frauenquote auch bei der Verteilung von Kabinettsposten erfüllt sein muß, und ob die künftigen Minister wegen des alten Grundsatzes der Trennung von Amt und Mandat ihre Bundestagsmandate zurückzugeben haben – das erhitzt die Gemüter weit mehr als Steuer, Rente, Asylpolitik und Nato-Einsätze.

Mit Trillerpfeifen und Plakaten erobern etwa 50 Frauen das Podium. „Wir lassen uns nicht abspeisen“, steht auf Pappschildern zu lesen, und eine Sprecherin erläutert, was das heißen soll: „Wir alle erwarten, daß Joschka und Jürgen heute abend erklären, daß einer von ihnen auf ein Ministeramt zugunsten einer grünen Frau verzichtet.“ Konkreter wird ihre Personalforderung nicht. So erntet das kurze Frauen-Happening großen Beifall und bleibt vorhersehbar folgenlos.

„Sie müssen sagen, welche Frau sie wollen“

„Wenn sie das wirklich durchsetzen wollen, müssen sie sagen, wer gehen soll und welche Frau sie dafür wollen“, meint der Europaabgeordnete Daniel Cohn-Bendit am Rande des Plenums. „So läuft das in einer Partei.“ Die künftige Staatssekretärin Christa Nickels hatte wohl recht, als sie am Abend zuvor selbstkritisch meinte: „Wir haben es nicht verstanden, machtpolitische Frauennetzwerke zu schaffen, die auch über die Bande spielen.“ Der künftige Außenminister Fischer und der designierte Umweltminister Trittin müssen um ihre Posten nicht bangen.

Größeres Kopfzerbrechen bereitet der Führungsriege der Streit um die Bundestagsmandate der künftigen Minister. Der Konflikt hatte sich in den letzten Tagen hochgeschaukelt. „Aber plötzlich wollte ihn keiner mehr gewinnen“, erzählt ein Mitglied des Bundesvorstands. Diejenigen, die zunächst auf einer Rückgabe des Mandats bestanden hatten, hätten auf einmal um das Zustandekommen der Koalition gebangt. Trittin und Fischer seien dagegen um die Stimmung in der Partei besorgt gewesen.

So wird denn hinter den Kulissen eilig ein strömungsübergreifender Kompromißantrag zusammengebastelt. Der Berliner Parteilinke Christian Ströbele und die nordrhein-westfälische Landesvorsitzende Barbara Steffens vom realpolitischen Flügel bringen ihn gemeinsam mit anderen im Parteitag ein. Erleichtert verabschiedet eine riesige Mehrheit das Papier, in dem „eine breite Debatte zur Reform der parlamentarischen Demokratie in der Bundesrepublik“ versprochen wird. Außerdem soll die Bundestagsfraktion eine „parlamentarische Initiative“ vorbereiten, die ermöglicht, Mandate von Regierungsmitgliedern „ruhen“ zu lassen. Ein solches Gesetz bräuchte im Bundestag eine Zweidrittelmehrheit, dürfte also kaum zustande kommen. Aber der innere Frieden bei den Grünen bleibt durch den Antrag gewahrt.

An einem zustimmenden Votum der Mehrheit für den Koalitionsvertrag hatten Beobachter von Anfang an kaum gezweifelt. Aber daß es so eindeutig ausfällt, liegt auch an einer klugen Parteitagsregie. Die Delegierten stimmen über das Gesamtpaket ab – wer das Personalpaket noch einmal aufschnüren will oder die Trennung von Amt und Mandat durchsetzen möchte, muß zugleich auch die Koalitionsvereinbarung ablehnen. So ernst ist der Widerstand denn doch nicht gemeint.

Der innere Frieden bleibt gewahrt

Es ist ein Parteitag der leisen Töne, der „die wichtigste historische Entscheidung“ trifft, „die ein Parteitag nach der Gründung zu treffen hatte“, wie Joschka Fischer sagt. Die neue Sanftmut zeigt sich auch optisch. Auf der großen Stellwand mit den vielen bunten „Üs“, die das Podium ziert, sind die knalligen Hintergrundfarben des Wahlkampfs zartem Pastell gewichen.

Um so lauter und greller geht es draußen zu, ein paar hundert Meter vom Versammlungsort entfernt. Die NPD demonstriert medienwirksam ausgerechnet an diesem Tag gegen die Wehrmachtausstellung, die noch bis Ende Oktober in der Bonner Beethovenhalle zu sehen sein wird. DGB, Jusos, PDS, autonome Gruppen und eben auch die Grünen haben zur Gegendemo aufgerufen. Mittags hält Jürgen Trittin dort eine kurze Rede: Die NPD sei „organisiertes Zentrum des militanten Neonazismus“. Allen bekannten Bedenken zum Trotz „muß man sehr nachdrücklich über Verbote, auch über Parteiverbote an dieser Stelle nachdenken“.

Abends eskaliert die Situation. Teilnehmer einer Gegendemonstration werden von der Polizei eingekesselt. Mehrere Bundestagsabgeordnete bemühen sich im strömenden Regen vor Ort um eine friedliche Lösung. Der Kessel wird aufgelöst. Die Schlußabstimmung haben die Vermittler verpaßt. Einmal noch war eine Arbeitsteilung zwischen grünen Regenten und grünen Demonstranten möglich. Oft wird es das nicht mehr geben. Bettina Gaus, Bonn