Sich retten gilt nicht

■ Die Bundestagswahl hat die Achtundsechziger auf die Vorderbühne und eine neue Generation von Stichwortgebern auf die Hinterbühne gebracht. Gespräch mit Heinz Bude über die Politik der Berliner Republik und den Wande

taz: Herr Bude, Sie haben vor einigen Monaten das Wort von der Generation Berlin geprägt und die heute 40jährigen zur Einmischung in das politische Tagesgeschäft aufgefordert. Mit der Etablierung von Rot-Grün scheint es so, als müßte die Generation wieder zurück auf die Ersatzbank.

Heinz Bude: Die Formel von der Generation Berlin sollte ein Vorbereitungsbegriff für den politischen Wechsel sein. Die Prognose besagte, daß es ganz sicher einen Generationswechsel in der politischen Arena geben wird. Das war dann auch das Ergebnis der Wahl. Es hat noch nie ein Bundeskabinett gegeben, das so durchgängig von einer Generation dominiert war. Die Heroen von 1968 erhalten jetzt ihre zweite Chance. Doch mit der Generation Berlin war gemeint, daß die 68er zwar die Fassadenkommunikation für den Machtwechsel übernehmen werden, aber von ihren eigenen existentiellen und intellektuellen Kompetenzen heraus nicht in der Lage sein werden, die notwendige Definition einer Berliner Republik vorzunehmen. Sie sind vielmehr angewiesen auf eine neue Generation von Stichwortgebern und Praxisvirtuosen, die ihnen die Impulse und Leitbegriffe liefern können. Es wird viel davon abhängen, inwieweit die 68er auf der Vorderbühne die Chance ergreifen, die Generation auf der Hinterbühne für sich zu gewinnen. Voraussetzung dafür ist eine sensible Stichwortdurchlässigkeit des führenden Personals.

Es ging bei der Generation Berlin also nicht um eine Gruppe junger, ideenreicher Unternehmer, die die Tugend der Orientierungslosigkeit für sich entdecken und dabei dies und jenes zustande bringen?

Der Begriff der Generation Berlin war der Versuch, mit Blick auf eine kommende Generation eine Veränderung von Haltungen deutlich zu machen. Eine Haltung der Kritik, die von einem imaginären äußeren Standpunkt sich das Ganze vorzustellen versucht, um daraus Schlüsse für die persönliche Lebensführung und das politische Handeln abzuleiten, ist nur noch für abendliche Stimmungen zu gebrauchen. Was der Jetztzeit entspricht, ist eine Haltung des Definierens. Die beruht auf der Einsicht, daß es keine Position außerhalb des Spiels gibt. Man kann kombinieren, vervielfältigen oder eine Kehrtwendung machen, aber eine Prozedur der Selbstbeobachtung, die sich ins Randständige rettet, gilt nicht mehr. Wer also mitspielen will, muß sagen, was Sache ist, wie die Dinge anzugehen sind und welche Konsequenzen er übernehmen will.

Geben Sie damit nicht überhaupt die Idee von Kritik auf?

Das ist nicht gegen Kritik als eine Praxis der Unterscheidung gerichtet, sondern gegen eine Einstellung der Immunisierung durch Kritik. Der Traditionalismus der Kritik öffnet nicht, sondern verstellt Möglichkeiten des Andersmachens und Weiterbringens.

Demnach hat man es künftig in der Berliner Republik nicht bloß mit einem politischen Farbwechsel, sondern mit einem vollständigen Wechsel des intellektuellen Klimas zu tun. Wodurch wird sich die Berliner von der Bonner Republik unterscheiden?

Das erste und zugleich schwierigste Abgrenzungskriterium besteht darin, daß die Demokratiebegründung einer Berliner Republik nicht mehr vergangenheitspolitisch funktionieren kann. Denn die vergrößerte Bundesrepublik hat seit 1989 eine neue Vorgeschichte. Aus der Sicht der Berliner Republik stellt die Bonner Republik eine Art Pufferstaat dar, der einen Abstand zum Nationalsozialismus herstellt. Die soziale Wahl der Bundesrepublik kann jetzt als Antwort auf die kollektiven Verbrechen des Nationalsozialismus verstanden werden. Es besteht auch keine Konkurrenz mehr zwischen einem ostdeutschen Antifaschismus und einem westdeutschen Postfaschismus. Damit ergibt sich für die Deutschen seit langer Zeit zum ersten Mal die Möglichkeit, eine abgeschlossene Periode ihrer Geschichte mit glücklicher Wehmut und milder Zuneigung zu betrachten. So wie sich der kleine, praktische Staat der Bundesrepublik in Bonn dargestellt hat, gleicht die Nachkriegsgeschichte eher einer Komödie als einer Tragödie, jedenfalls der Versöhnung näher als dem Untergang. Und zwar im Bewußtsein der Nachfolge und letztlich ohne Zweifel über die Gegenwartsbedeutung der nationalsozialistischen Vergangenheit.

Und was ist jetzt?

Die Schwierigkeiten für die Begründung einer Berliner Republik ergeben sich daraus, daß dieser unmittelbare Anschluß an den Nationalsozialismus so nicht mehr besteht. Der Rückblick auf die kollektive Lerngeschichte der Bonner Republik bedeutet allerdings nicht einfach eine Befreiung von der Last der nationalsozialistischen Vergangenheit, sondern geradezu im Gegenteil, das Nachfolgebewußtsein reicht nicht mehr zur Begründung von Demokratie. Die Richtungsentscheidungen in der Außen- oder der Sozialpolitik können im Bewußtsein von Auschwitz so oder so ausfallen: Man kann sich wegen der besonderen deutschen Verantwortung an einer militärischen Intervention im Kosovo beteiligen oder gerade nicht beteiligen. Vergangenheitspolitisch lassen sich für die neue Bundesrepublik weder eine verantwortungsvolle Außenpolitik noch von daher die Maßstäbe eines neuen sozialpolitischen Republikanismus rechtfertigen.

Die Haltungen in der Berliner Republik werden demnach völlig andere sein als die der Bonner Provenienz. Es müsse eine Neudefinition erfolgen, sagen Sie. Können Sie gleich einmal damit anfangen?

Die Berliner Republik wird von einem renovierten sozialdemokratischen Politikstil bestimmt sein. Besonders die SPD muß dazu den Anschluß an das politische Vorstellungsvermögen der europäischen Sozialdemokratie wiedergewinnen. Was nämlich in der britischen, der holländischen, der schwedischen oder der italienischen Variante auffällt, ist die Durcharbeitung des Gleichheitspostulats des klassischen sozialdemokratischen Politikmodells der Nachkriegszeit. Dahinter steht einerseits der Schock nach der Einsicht in das dramatische Scheitern des kommunistischen Experiments und andererseits eine Ernüchterung über die Wirkungen des Wohlfahrtsstaats. Die grundsätzliche Folgerung lautet, daß eine Politik der Gleichheit immer mit Ungleichheitseffekten rechnen muß. So ignoriert man, um ein ganz einfaches Beispiel zu nennen, bei gleichem Einkommen die Ungleichheit der Leistungsbereitschaft. Je nach dem, auf welchen Standpunkt man sich stellt, kann man das als schreiende Ungerechtigkeit empfinden. Generell gesprochen: Chancengleichheit bedeutet auf keinen Fall Ergebnisgleichheit.

Geht dieses Denken nicht in eine ganz gefährliche Richtung?

Ich glaube, daß es sogar notwendig ist, in diese Richtung zu denken, um einen starken Gerechtigkeitsbegriff zu entwickeln. Denn darauf ist eine linke Politik angewiesen. Der kann allerdings nicht mehr aus den Ansätzen der Nachkriegslinken geholt werden, die eine merkwürdige Mischung aus Mehrheitsklientelismus und Minderheitenemphase gebildet haben. Man hat in sozialstaatlicher Absicht das System der Versorgungsklassen perfektioniert und gleichzeitig im Zeichen von Differenzdiskursen die verschiedensten Identitätspolitiken unterstützt. Nimmt man dagegen die von Tony Blair mit der Emphase des politischen Predigers vorgetragene Rhetorik der Inklusion, so stellt man fest, daß hier an eine bestimmte Majorität appelliert wird. Da wird Gerechtigkeit mit Effizienz in Verbindung gebracht, mit einer Politik der Möglichkeiten und Anreize und vor allem mit einem Individualitätsmodell des Aktivismus und der Selbstverantwortung.

Gleichheit und Gerechtigkeit sind ja die Pathosformeln aller demokratischer Begründungen. Geht es also noch einmal um einen großen Entwurf. Wird die Berliner Republik Gegenstand einer großen Erzählung?

Es geht nicht um Utopien, sondern um Leitbegriffe, die dem gerecht werden, was tatsächlich in der Gesellschaft passiert. Es braucht so etwas wie die Definition von führenden Individualitätstypen. Ein solcher Typus muß auf die wachsenden Bedürfnisse nach Zeitsouveränität in den Beschäftigungsverhältnissen antworten oder der Veränderung des Leistungsbegriff in prozeßorientierten Arbeitsvorgängen ohne starre Zeit oder Mengenvorgaben gerecht werden. Ich sehe aus diesen und vielen anderen Gründen den Typ des unternehmerischen Einzelnen entstehen, der nur noch wenig mit den Organisationsinteressen und Großgruppenorientierungen des Arbeitnehmers aus dem Modell Deutschland zu tun hat.

Das hört sich verdächtig nach einer neoliberalen Position an.

Die Position, die ich beschreibe, hat vom Liberalismus gelernt, bei dem die Vorstellungen der Selbstsorge und des unternehmerischen Aktivismus natürlich immer schon eine entscheidende Rolle gespielt haben. Es ist aber keine Öffnung zum Neoliberalismus, wenn damit eine kaltherzige Idee von Selbstzurechnung gemeint ist. Also nicht: Wer es schafft, kann glücklich sein, und wer es nicht schafft, hat eben Pech gehabt. Was die Leute eher suchen, ist eine Verbindung von dieser Idee des unternehmerischen Einzelnen mit einer Vorstellung sozialer Teilhabe. Nach den Vorstellungen eines lebenspraktisch tief verankerten Universalismus sollen alle dabeisein können. Darin besteht der Unterschied zu einem neoliberalen Denken: Die politische Verantwortung nicht nur für die Spielregel, sondern auch noch dafür zu übernehmen, daß Leute, die rausgefallen sind, wieder ins Spiel kommen können.

Wenn man die Presse nach der Wahl aufmerksam verfolgt hat, dann traut Rot-Grün niemand so recht einen Politikwechsel zu. Wie müßte ein erfolgreicher rot-grüner Programmwechsel aussehen?

Ich glaube schon, daß es einen Programmwechsel geben wird, der nur nicht mit dem Erstellen einer Utopie verwechselt werden darf. Dabei wird wichtig sein, nicht auf bestimmte Täuschungen der Politik hereinzufallen. Über die Falle des Zentralismus wird man am schnellsten Einigkeit erzielen. Eine andere Falle steckt meiner Ansicht nach in der Orientierung auf Langfristigkeit. Positiv in den 90er Jahren war das Experimentieren mit verschiedenen Zeitregimes. Man sollte nicht immer Jahrhundertreformen machen wollen. Der Vorteil von kurz- und mittelfristigen Maßnahmen liegt doch darin, daß man sie wieder zurücknehmen kann, wenn sie sich nicht bewährt haben. Der politische Experimentalismus, wie man ihn aus dem amerikanischen Pragmatismus kennt, könnte eine Berliner Republik in Bewegung halten. Interview: Harry Nutt