Ein Ostdeutscher jetzt schon auf Platz 2 im Staat

■ Der neue Bundestag wählt den Ostberliner Wolfgang Thierse zu seinem Präsidenten. Unionsfraktion scheitert beim Versuch, PDS-Vizepräsidentin zu verhindern

Bonn (taz) – Wolfgang Thierse ist gestern in der konstituierenden Sitzung des 14. Deutschen Bundestags mit 512 Stimmen zum Bundestagspräsidenten gewählt worden. Gegen ihn votierten 109 Abgeordnete, 45 enthielten sich. Als erster Ostdeutscher an der Spitze des Parlaments will der Sozialdemokrat sich besonders für die innere Vereinigung Deutschlands einsetzen. Daß ein „ehemaliger Bürger der überwundenen DDR dieses Amt übertragen bekommt, ist dabei wohl mehr als eine Geste“, sagte Thierse, „es ist durchaus ein historisches Datum“.

Nach der Rede Thierses scheiterte die Union mit ihrem Antrag, die Ämter der Vizepräsidenten im Parlament nicht mehr an die Fraktionen zu knüpfen. SPD, Grüne, FDP und PDS stimmten gegen den Versuch, so der PDS einen Sitz im Präsidium zu verweigern. Der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Hans-Peter Repnik, hatte den Antrag damit begründet, daß die PDS nicht „eindeutig auf dem Boden des Grundgesetzes“ stehe. Wie bereits in der vergangenen Legislaturperiode hat nun jede Fraktion Anspruch auf einen Vize im Parlamentspräsidium. Als Stellvertreter wurden am Abend zunächst Anke Fuchs (SPD) und Rudolf Seiters (CDU) gewählt. Die Wahl von Antje Vollmer (Grüne), Hermann Otto Solms (FDP) und auch von Petra Bläss (PDS) galt als sicher.

Die erste Sitzung des Bundestages hatte wie vor vier Jahren mit einem Eklat begonnen. Nach der Eröffnungsrede des parteilosen Alterspräsidenten, Fred Gebhardt, der für die PDS-Fraktion im Bundestag sitzt, verweigerten die Abgeordneten von CDU/CSU sowie der FDP ihren Beifall. Damals hatten die Koalitionsabgeordneten nach der Rede des 81jährigen PDS-nahen Alterspräsidenten Stefan Heym keine Hand gerührt. Diesmal galt es aber als ausgemacht, daß alle Abgeordneten klatschen. Der 70jährige Gebhardt, der traditionsgemäß als ältestes Mitglied des Bundestags die Eröffnungsrede hielt, hatte zuvor gesagt, es habe ihn „unangenehm berührt“, daß ein Teil des Bundestages Stefan Heym nicht die „gebührende Achtung“ entgegengebracht habe. „Aber inzwischen sind wir vier Jahre weiter.“

Thierse bedankte sich zu Beginn seiner Rede bei der bisherigen Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth. Sie habe Maßstäbe gesetzt. „Nicht nur für die Art und Weise, sondern auch wie sie den Bundestag in der Öffentlichkeit repräsentiert hat.“ Der gebürtige Breslauer betonte, er empfinde sich „in einem gänzlich uneitlen Sinn als Stellvertreter, als Repräsentant meiner ostdeutschen Mitbürgerinnen und Mitbürger“. Er sei weder Widerstandskämpfer gegen das SED-Regime noch dessen Mitläufer gewesen: „Damit stehe ich für vermutlich eine große Mehrheit meiner Landsleute in den ostdeutschen Ländern.“ Die innere Einheit Deutschlands könne nur vollendet werden, wenn die „andersartigen Biographien“ im einstmals getrennten Deutschland gleichberechtigt anerkannt würden. Markus Franz