Ein Mammutwerk zur Popmusik

■ Die Radio Bremen Sendereihe „Roll over Beethoven“ gibt es jetzt als Box mit 52 CDs und Buch / Der Redakteur und Mitautor Peter Schulze verriet der taz, wer das alles hören soll – und ob die Dokumentation fortgesetzt wird

Radio Bremen mag ja heute in großen finanziellen und politischen Schwierigkeiten sein. Aber man sollte nicht die zu ihrer Zeit gewagten Pioniertaten vergessen, durch die die kleinste ARD-Sendeanstalt bekannt wurde: „Loriot“, „3 nach 9“, der „Beatclub“ sind heute noch unerreichte Großtaten des deutschen Fernsehens. Beim Radio, dem paradoxerweise viel leiseren Medium, fällt einem dagegen nur eine ähnlich epochale Leistung ein. In den 70er und 80er Jahren produzierten Klaus Kuhnke, Manfred Miller und Peter Schulze die Sendereihe „Roll over Beethoven“, in der nichts Geringeres als eine „Geschichte der Popmusik“ geschrieben, erzählt und mit einer Unmenge von exemplarischen Songs hörbar gemacht wurde. Jetzt hat das Label „Bear Family“ den zweiten Teil dieses Geschichtswerks, das die Entwicklung der populären Musikrichtungen von 1947 bis in die späten 60er Jahre behandelt, in einer großen, schwarzen Box herausgegeben. Sie enthält neben 52 CDs mit Kapitelüberschriften wie „Von affenähnlichen Musikern und fahrenden Sängern“ oder „Middle of the Road und allerlei drumherum“ auch ein großformatiges Buch mit den Texten der Sendungen und vielen Fotografien der pophistorisch relevanten Musiker. Im Gespräch mit der taz erläuterte der Mitautor Peter Schulze, warum die Popgeschichte so viel Ausführlichkeit verdient.

taz: Der Großtat im Radio folgt nun die entsprechend dicke Box, die sehr schön, aber mit 990 Mark auch sehr teuer ist. Wer soll das bezahlen?

Peter Schulze: Im Vergleich ist unsere Box ja noch eher preiswert. Die etwa gleichgroße Edition „Graceland“ mit der Musik von Elvis Presley kostet 1.600 Dollar, aber natürlich ist das eine Menge Geld, das man erst einmal übrighaben muß. Wir wissen, daß wir damit eine finanzielle Schallmauer erreicht haben, die den Käuferkreis sehr einschränkt, aber wir haben inzwischen schon über 350 Boxen von der Erstauflage von 1.000 verkauft. Und natürlich rechnen wir kaum damit, daß sich jemand die CDs alle nacheinander anhört. Sie werden wohl meist wie eine Enzyklopädie der Musikgeschichte genutzt werden. Und wer liest sich schon ein ganzes Lexikon durch.

Ist eine Box mit CDs und einem Buch aus Papier heute in Zeiten der CD-Rom nicht schon fast wieder ein altmodisches Produkt?

Mit der CD-Rom muß man immer am Rechner sitzen, die CD kann man im Auto oder wo auch immer hören. Für uns ist dies die medial optimale Umsetzung des Projekts. Wir haben Texte, die sich auf Musik beziehen, mal ironisch, mal verstärkend, mal um Verbindungen darzustellen. Nun kann man die angesprochenen Songs auch hören und die Texte, die sich zugegebenermaßen nicht immer beim ersten Hören im Ohr festsetzten, im Buch nachlesen. Den ersten Band gab es nur als Text zu kaufen, und da merkt man schnell, daß etwas Wesentliches fehlt. Damals in der Mitte der 70er Jahre haben wir aber auch schon ein sogenanntes Phonobuch produziert. Die Deutsche Verlagsanstalt hatte das Patent für Schallfolien, die in das Buch eingeklebt wurden, und mit einem Gerät, das auf das Buch gesetzt wurde, abgespielt werden konnten. Da drehte sich, anders wie sonst, dann der Saphir um die Platte. Das war natürlich alles andere als HiFi, aber der Verlag wollte damit groß auf den Markt kommen und investierte um die vier Millionen Mark Entwicklungskosten. Als die Geschäftsleitung dann ausgewechselt wurde, starb auch das Projekt. Aber etwa 100 Exemplare davon wurden tatsächlich hergestellt. Und die gehören jetzt als Paradebeispiele ins Museum für Multimedien.

Jetzt kann Radio Bremen ja stolz darauf sein, solch eine weltweit einmalige Sendereihe produziert zu haben. Aber nachdem der erste Teil gesendet worden war, wollte Radio Bremen 1976 die Serie wegen „politischer Indoktrination“ einstellen. Das klingt gerade beim damals vermeintlich roten Sender doch sehr kurios.

Man muß sagen, daß der erste Band schon ideologisch kraftvoll war. Die Gremien, die über die Weiterführung des Projekts zu entscheiden hatten, warfen uns ausgerechnet vor, „antiamerikanisch“ zu sein. Es gab dann ein großes Scherbengericht, und uns wurde eine Denkpause verordnet, die acht Jahre lang währte, so daß wir erst 1984 weitermachten.

Der wahre Kern dieses Vorwurfs zielt doch wohl darauf, daß sich dieses Projekt in erster Linie auf die Sozialgeschichte der Pop-Musik konzentriert. Hat sich da zwischen dem ersten und zweiten Band grundsätzlich etwas verändert?

Der erste Impuls für die Arbeit an der Sendereihe war, daß wir uns über die Legendenbildung in Sachen Popmusik à la „Elvis hat 1954 den Rock'n'Roll erfunden“ usw. geärgert hatten. Wir wollten zeigen, daß die populäre Musik viel älter und komplexer ist. Der zweite Band ist dagegen erheblich kompakter. Er beschreibt die gravierende Entwicklung in etwas mehr als zwanzig Jahren. Einen großen internationalen Markt für Musik gibt es erst seit den 50er Jahren. Und wir wollten eine halbwegs genaue und kompakte historische Darstellung dieses Werdegangs leisten. In der Journaille werden nur die Legenden weiterverbreitet. Aber Legenden starten keine Industrie und sie erklären nichts. Auch der musikimmanente Ansatz schien uns unzureichend, und das nicht nur, weil kaum einer der Konsumenten von Popmusik eine musiktheoretische Ausbildung hat. Man kann ja nicht den Punk begreifen, wenn man erfährt, daß er auf drei Akkorden basiert, und es sagt gar nichts über den deutschen Schlager aus, daß er auf vier Akkorde zu reduzieren ist. Nur wenn man diese Musikrichtungen als soziale Phänomene versteht, kann man Entwicklungen verständlich machen.

Nun müßte ja eigentlich der dritte Band mit der Entwicklung bis heute geschrieben werden.

Ja, natürlich! Aber das sollen andere machen. Man braucht schon eine Affinität zum Material, die Manfred Miller und mir – Klaus Kuhnke ist ja leider 1988 verstorben – fehlen würde.

Aber ist nicht gerade eine gewisse Distanz erforderlich, um eine derartige Arbeit zu machen? Die beiden ersten Teile haben Sie doch auch nicht als Fans geschrieben.

Aber du kannst die Kraft dafür nur aufbringen, wenn es eine grundsätzliche Nähe zum Material gibt. Der Weg war ja für uns nicht so süß. Wir haben oft 20 Stunden am Tag durchgearbeitet. Und auch die Neubearbeitung des Stoffs für die Box war für uns eine große Anstrengung. Das war ein logistischer Husarenritt mit 700 einzelnen Titeln, die lizenzmäßig geklärt werden mußten, der Suche nach halbverschollenen Quellen für die Zitate in den Manuskripten und äußerst knapp kalkulierten Terminen. Bei der halben Million Mark Produktionskosten, die die Box letztlich gekostet hat, ist unsere Arbeit gar nicht mitgerechnet.

Fragen: Wilfried Hippen