Die Leute kommen kaputter raus als rein

■ Deutschlands größter Männerknast in Berlin-Tegel wird 100. Seit Heroin Einzug gehalten hat, regieren Angst und Einschüchterung

Der 58jährige Hilfsarbeiter Walter K. ist ein in sich gekehrter, wortkarger Zeitgenosse. Am wohlsten fühlt sich der große untersetzte Mann mit den kräftigen Händen bei der Gartenarbeit – wenn er in den Rabatten der Berliner Justizvollzugsanstalt Tegel Unkraut zupfen und Blumen gießen kann. In Deutschlands größter Männerstrafanstalt gehört Walter K. schon fast zum Inventar. Er verbüßt in Tegel seit über 35 Jahren eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen Kindesmord. Länger als er sitzt von den 1.643 Gefangenen keiner. Als junger Mann hat Walter K. in Tegel noch das Zuchthaus kennengelernt. „Das Leben war damals besser. Gemessen an den Richtlinien wußte man, wo dran man war. Heute wird doch alles auf die lange Bank geschoben.“

Die Justizvollzugsanstalt Tegel feiert in diesen Tagen ihr 100jähriges Bestehen. Das 16 Hektar (ungefähr 14 Fußballfelder) große Gelände hinter Mauern und Stacheldraht ist eine eigenständige Stadt am nördlichen Rand der Hauptstadt: mit eigenen Werkstätten, einer Schule, Bäckerei und einem Frisör. Auch eine Knastzeitung gibt es und eine Kirche, in der am vergangenen Montag die Jubiläumsfeier stattfand. Die Insassen waren während des Festaktes unter strengem Verschluß. Aber es gibt ohnehin keinen Grund zum Feiern: Die Anstalt ist stark überbelegt und hat ein immenses Drogenproblem. Nach Schätzung der Berliner Aidshilfe sind von 1.600 Insassen mindestens 800 drogenabhängig, und die Hälfte sind davon HIV-positiv. An Heroinnachschub mangelt es nicht. Wohl aber an sauberen Einwegspritzen. Weil sich der Berliner CDU-SPD-Senat bislang nicht zur Aufstellung von Spritzenautomaten in Tegel entschließen konnte, sind die Insassen weiter zum „needle-sharing“ gezwungen.

„Die Zustände schreien zum Himmel“, sagt der rechtspolitische Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen, Norbert Schellberg. „Die Leute kommen kaputter raus als rein.“ Der Vorsitzende der Berliner Strafverteidiger-Vereinigung, Rüdiger Portius, fragt sich angesichts der grausigen Tegeler Verhältnisse, „wann man in Berlin wohl endlich kapiert, daß Junkies nicht in den Knast gehören“.

Die harten Drogen haben in den achtziger Jahren Einzug in den Knast gehalten. In weiten Teilen der Anstalt regiert ein Klima aus Angst und Einschüchterung. „Ich habe hier drinnen Typen kennengelernt, die aus Angst vor ihren Gläubigern mit Tesafilm umwickelte Rasierklingen schluckten, um ins Haftkrankenhaus verlegt zu werden“, erzählt ein Gefangener. „Wir versuchen mit unseren bescheidenen Mitteln den Inhaftierten die Chance zu geben, von den Betäubungsmitteln wegzukommen“, sagt Klaus Lange-Lehngut, der seit 1979 Tegeler Anstaltsleiter ist. Aber auch er macht keinen Hehl daraus, daß das Drogenproblem im Knast nicht zu lösen ist.

Im Vergleich dazu herrschten in den siebziger Jahren fast rosige Zeiten. Damals war der selbstgebraute Alkohol die bevorzugte Droge. Der „Selbstangesetzte“ zog aber nie solche Kreise wie das Heroin, weil die geruchsintensive Produktion in großen Behältern nicht so leicht zu verbergen ist wie die kleinen Tütchen. In den siebziger Jahren haben Bandenchefs wie Klaus Speer als Häftlinge im Knast für Ordnung und Stimmung gesorgt. Die Legende geht um, daß sich Speer die Beamten gefügig zu machen versuchte, in dem er ihnen „Bums-Bons“ für Bordelle schenkte.

Die Häftlinge aus der ehemaligen DDR, die 1990 nach der Auflösung der Ostberliner Knäste nach Tegel verlegt wurden, waren von dem Gefängnis schier entsetzt. „Ich kam mir vor wie in einer Irrenanstalt“, erinnert sich ein wegen Mordes zu Lebenslang verurteilter Ex-DDR-Häftling. „Det sind hier allet so abgeklemmte Typen, man fühlt sich richtig einsam, trotz Wohngruppenvollzug.“

Anstaltsleiter Lange-Lehngut sieht das ganz genauso. „Unter den Gefangenen gibt es weniger Solidarität als früher.“ Lange-Lehngut führt diese Entwicklung allerdings weniger auf die Existenz der Drogen zurück, sondern eher auf die Reformen des Strafvollzugs. Wer sich gut führt, wird mit Vollzugslockerungen belohnt. „Das führt dazu, daß jeder auf seine persönliches Vorankommen bedacht ist.“ Für die Anstaltsleitung sei dies natürlich positiv, weil die Gefangenen – anders als in den vergangenen Jahrzehnten – leichter in Schach gehalten werden können.

Der 69jährige katholische Gefängnisseelsorger Pater Vincent macht die zunehmende „Single- Mentalität“ für die Entsolidarisierung verantwortlich. „Das ist draußen doch ganz genauso.“ Der 1,56 Meter große Pater mit dem lautstarken Organ, der unter seiner schwarzen Mönchskutte einen stolzen Kugelbauch vor sich her trägt, gehört mit seinen 29 Dienstjahren ebenfalls zum Tegeler Urgestein. „Früher gab es hier noch die Paß-Männer, die alles miteinander besprochen und geteilt haben.“ Jetzt sei ein solches Gemeinschaftsgefühl nur noch bei den Ausländern spürbar. „Die Russen und Südamerikaner halten viel mehr zusammen und schützen sich bei Konflikten gegenseitig.“

In Tegel sitzen 33 Prozent Ausländer aus mehr als 50 Nationen ein. Viele Inhaftierten sind kaum der deutschen Sprache mächtig und haben deshalb keinen Anspruch auf einen Platz in der Sozialtherapie. Aber im Gegensatz zu anderen Bundesländern werden den ausländischen Inhaftierten in Tegel bei „guter Führung“ selbst dann Vollzugslockerungen gewährt, wenn eine rechtskräftige Ausweisungsverfügung existiert. Diese Regelung ist eine Hinterlassenschaft des rot-grünen Senats, der Berlin 1989/90 regierte.

Wie überall im Land fehlt auch in Tegel an allen Ecken und Enden das Geld. Die Insassen klagen darüber, daß bereits das Klopapier knapp werde. Schlimmer ist wohl, daß freiwerdene Sozialarbeiterstellen wegen der Finanzknappheit nicht mehr besetzt werden dürfen. Es gibt bei weitem nicht genug Arbeits-, Schul-, und Ausbildungsplätze. Auch Kurse von Honorarkräften wurden um 50 Prozent reduziert. Ersatz ist nicht in Sicht. Und nur wenige Menschen sind noch zur Übernahme einer ehrenamtlichen Vollzugshelferschaft für einen Gefangenen bereit. Auch in der linksalternativen Szene ist das Interesse an der Knastarbeit erlahmt. Auch bei der evangelischen Gefängnisseelsorge ist drastisch gekürzt worden. „Tegel entwickelt sich immer mehr zu einem Verwahrvollzug“, konstatiert der evangelische Knastpfarrer Rainer Dabrowski bitter.

So nüchtern und ausdruckslos wie der Hilfsarbeiter Walter K. ist auch seine Zelle. In der Regel staffieren Lebenslängliche ihre Hafträume aus wie Puppenstübchen. In Walter K.s Zelle befindet sich dagegen nur das Allernötigste. An der Wand kleben ein paar Pin-up- Girls. Auf dem Regal stehen Radio und Fernseher. Bücher gibt es keine. „Lesen“, sagt Walter K., „tue ich schon lange nicht mehr.“

Nach über 35 Jahren Haft ist für den Gefangenen K. nun endlich die Entlassung in Sicht. Er habe so lange gesessen, weil er lange Zeit eine Therapie verweigert habe und „die Tat als bestialisch hingestellt wurde“. Der Mann hatte ein achtjähriges Mädchen mit einem Hammer erschlagen. Seit einem Jahr bekommt der Hilfsarbeiter Tagesurlaub. „Wenn es so gut weiterläuft, bin ich in einem Jahr draußen“, sagt er. Ein „ulkiges Gefühl“ habe er bei dem Gedanken schon. „Man ist doch völlig aus dem Tritt.“ Plutonia Plarre