Mit Taschenrechner beim KGB

■ Im Augenreibekino: Hans Magnus Enzensberger schickt einen kleinen Jungen auf Zeitreise und wird selbst ein bißchen nostalgisch

Zeitreisen gehören spätestens seit Jules Vernes zum festen Bestand der Jugendliteratur. Es scheint, daß das Reisen in der Zeit dem Charakter der Jugend entgegenkommt. So wesentlich und intensiv einerseits jeder Augenblick erlebt wird, desto gewärtiger auch die Erwachsenenrede: „Das einzig Gute an diesem Alter ist, daß es vorbeigeht.“

Auch Robert ist ein Reisender in Sachen Zeit. Wie es sich für einen Halbwüchsigen an der Jahrtausendwende gehört, geht er nur „auf Empfang“, wenn er Lust dazu hat. „Geistesabwesend“, nennt das seine Biologielehrerin, die ihm wie die Mutter die Ohren volljault. Doch Robert ist nicht auf Töne oder gedruckte Worte, sondern nur auf Bilder abonniert, ihn interessiert nur, was er in seinem „Augenkino“ sieht. Während wir also damals mit der „Bezaubernden Jeannie“ die Räume überwanden oder uns mit Mr. Spock in ein anderes Universum beamten, hat es Robert viel einfacher. Er braucht bloß ein bißchen in den Augen zu reiben, und schwups!, schon hat er sich mit schwerwiegenden Folgen in die Geschichte zurückkatapultiert.

Zum Beispiel zu Olga, die als Apothekerin jenseits des Ural im Jahre 1956 mehr schlecht als recht ihr Dasein fristet. Zufällig gerät Robert in eine Demo und in die Fänge des KGB, dessen von der Geschichte nun sattsam demontierte Tölpel sich nicht erklären können, wie der Taschenrechner funktioniert, den Robert neben vielen anderen verräterischen Utensilien mit sich herumträgt.

Glücklicherweise dauert das Knast-Intermezzo nur ein paar Tage, und Robert gerät unfreiwillig in eine Filmszene mitten in Australien. Auf seiner dritten Reise begegnet er 1930 seiner Großmutter als kleines Mädchen, dann landet er an der norwegischen Küste, verliebt sich in eine barocke Prinzessin, die ihn jedoch nur an der Nase herumführt. Er vagabundiert als Räuber durch den Dreißigjährigen Krieg und findet sich auf seiner siebten und letzten Reise schließlich bei einem holländischen Maler wieder, bis ihm die ganze Reise schließlich zu lästig wird und er sich „zurückmalt“, nach Hause.

Das wäre eine, wenn auch nicht gerade originelle, so doch recht hübsche Geschichte voll von dramatischer Situationskomik, wenn der geschätzte Literat Enzensberger einen Sinn für Spannung hätte und seinen Robert nicht so schrecklich betulich sprechen ließe. Vielleicht hat sich der Autor selbst nostalgisch zurückgebeamt in die dreißger Jahre, als die kleinen Jungs noch allerhand Krimskrams in der Tasche trugen.

Daß Roberts Zeitreise die Sprünge der medialen Revolutionen nachvollzieht, ist wohl lehrreich – und wirklich amüsant die Begegnung mit Herrn Leibniz; sie bleibt der erzählten Geschichte jedoch so äußerlich, wie die historische Geschichte, in die Robert gerät, blaß. Wir warten auf den begnadeten Regisseur, der sie in farbige Bilder faßt und heftig an der Kurbel dreht. Ulrike Baureithel

Hans Magnus Enzensberger: „Wo warst du, Robert?“ Hanser Verlag, München 1998, 276 S., 34 DM