Semesterstart im Vollrausch

In Belgien müssen sich die Studienanfänger riskanten Mutproben unterziehen. Das feuchte, aber nicht immer fröhliche Treiben hat sogar den Segen der Polizei  ■ Aus Lüttich Corinna Budras

Die Temperatur ist an diesem Oktoberabend noch spätsommerlich, es weht ein laues Lüftchen durch die Fußgängerzone des ostbelgischen Lüttich. Doch plötzlich wird die Ruhe jäh von einer Horde laut grölender Studenten gestört. Ein älteres Semester jagt die Studenten nackt über den Marktplatz. Andere sind zwar vollständig bekleidet, krümmen sich aber vor Übelkeit, weil sie ein selbstfabriziertes Gebräu in einem Zug austrinken mußten.

Schauspiele, die sich von Jahr zu Jahr wiederholen. Sie sind Bestandteil der „Baptêmes“, der Erstsemester-Taufen. Ein großer Teil der Studienanfänger muß sich dem Ritual unterziehen. Es ist umstritten wegen der Risiken, die die Mutproben mit sich bringen. In Frankreich sind die Taufen inzwischen verboten, werden aber im geheimen weitergeführt.

In Belgien dagegen dürfen sich die Kandidaten in den ersten Monaten ihres Studiums noch immer ganz offiziell den Mutproben unterziehen – ein zweifelhaftes Vergnügen. Dem Einfallsreichtum ihrer „Paten“, bereits getaufter Studenten aus den höheren Semestern, sind dabei keine Grenzen gesetzt. Virginie, BWL-Studentin im letzten Studienjahr, mußte in ihrem ersten Semester tote Kühe küssen oder vor versammelter Mannschaft nackt in Tierblut baden. Es habe ihr nicht viel ausgemacht, beteuert die 23jährige, die aussieht wie eine brave Durchschnittsstudentin.

Hinter vorgehaltener Hand wird zwar immer wieder von tragischen Unfällen berichtet, doch für den 26jährigen Bankangestellten Pierre sind das Schauermärchen. Er war seinerzeit Präsident des Taufkomitees, gab jahrelang den Studienanfängern die Kommandos bei den Taufen. „Die Veranstaltungen sind öffentlich, deshalb sind die Taufen kontrollierbar“, erklärt er und hält zur Bestätigung den Zeigefinger in die Luft. Fast möchte man dem smarten Banker mit der braven Fönfrisur und dem hilfsbereiten Lächeln glauben.

Ganz so ist es jedoch nicht. Die Mutproben und die Taufe am Ende der Probezeit finden hinter verschlossenen Türen statt und sind nur für bereits getaufte Studenten zugänglich. Zudem dürfen die Studenten keinem Außenstehenden verraten, was dabei geschieht – „um den Nachfolgern den Spaß nicht zu verderben“, sagt Virginie. Es ist also nur bekannt, was auf der Straße geschieht: Showeinlagen mit gelegentlich entwürdigendem Charakter – und einem Alkoholkonsum, der selten unter 10 Bier pro Abend liegt.

Virginie nahm an der Taufe aus sozialen Gründen teil: „Ich kam damals vom Land nach Lüttich und kannte niemanden. Das war einfach die beste Art, die Leute kennenzulernen.“ Dafür nahm sie auch die Kosten hin, die mit dem hohen Alkoholgenuß einhergehen. Rund drei- bis vierhundert Mark muß der gemeine Studienanfänger ausgeben, damit er einen Monat lang soviel trinken kann, wie sein Taufpate für nötig hält.

Größtenteils sind die Taufen in Belgien freiwillig. Rund 30 Prozent der Studenten unterziehen sich dem Ritual – um dabeigewesen zu sein. Allein im Studienfach Veterinärmedizin ist die Teilnahme Pflicht: Wer sich weigert, wird vom studentischen Leben ausgeschlossen. Gespräche mit dem Verweigerer finden nicht statt. Zutritt zu Studentenfeten hat er auch nicht.

Höhepunkt des Rituals ist die Krönung des Königs der Studienanfänger am Ende des Jahres. Ausschlaggebend ist bei dieser Fete einzig und allein die Trinkfestigkeit der Kandidaten. Die Spielregeln sind einfach und selbst im größten Suff zu verstehen: Jeweils sieben Bier müssen in den Vorrunden so schnell wie möglich in einem Zug getrunken werden. In der Endrunde kommt dann eine Variante ins Spiel: Da gilt es in sieben Minuten soviel wie möglich hinunterzukippen. Allein beim Finale schüttet der Held des Abends sieben Liter in sich hinein, nachdem er bereits Vorrunde, Viertel- und Halbfinale passiert hat.

Sieben Liter in sieben Minuten bringen auch den stärksten Säufer zum Kotzen. Spätestens nach dem vierten Bier schießt ein riesiger Strahl Bier aus seinem Mund in die große Tonne, die in weiser Voraussicht vor ihm plaziert wurde. Dabei geht schon mal was daneben, aber das ist dem Kandidaten wie dem besoffenen Publikum völlig egal.

Zu vorgerückter Stunde wird das studentische Treiben von den lokalen Autoritäten abgesegnet: Zwei Polizisten in voller Montur werden freudig begrüßt. Am Eingang tauschen sie einige freundliche Worte mit den wenigen Studenten aus, die dazu noch fähig sind. Dann führt sie der Weg schnurstracks zur Bierausgabe. Für sie ist der Zugriff schließlich kostenlos.