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Eine Republik feiert sich selbst

Heute vor 75 Jahren entstand die Türkische Republik. Die Ideologie des „Vaters der Türken“, Mustafa Kemal, gilt als unantastbar. Dabei hat die Realität sie längst eingeholt. Dem Staat droht der Zusammenbruch  ■ Aus Istanbul Jürgen Gottschlich

Es begann mit einem Kopfschütteln. Was machen die da bloß? Palettenweise wurden Sperrholzplatten abgeladen, Blech- und Stahlträger versperrten die Straße. Danach wurde der kleine Platz im Herzen Istanbuls, auf halber Höhe der berühmten Einkaufsstraße, der Istiklal Caddesi (Unabhängigkeitsstraße), in eine Baustelle verwandelt. Niemand konnte sich vorstellen, was da entstehen sollte. Dabei spricht bereits der Ort dafür, daß der Bau etwas mit der heute bevorstehenden Feier zum 75jährigen Bestehen der Türkischen Republik zu tun haben muß. Inmitten der Tag und Nacht werkelnden Handwerker steht das vor einem Vierteljahrhundert errichtete, an eine Stalinorgel erinnernde Denkmal zum 50. Jahrestag der Republik — silberglänzende Stahlröhren auf einem Granitsockel.

Hier, auf der Istiklal, die den Stadtteil Beyoglu durchschneidet, das alte europäische Zentrum Istanbuls, fand die Kulturrevolution Mustafa Kemals ihren deutlichsten Ausdruck. Der später Atatürk – Vater der Türken – genannte Politiker, dekredetierte eine europäische Kleiderordnung, das Verbot von Schleier und Fes. In Beyoglu wurden diese Anweisungen begeistert befolgt. Nirgendwo war die Türkei europäischer als hier, und das ist bis heute so geblieben. Bleibt man in Beyoglu, kann man leicht den Eindruck bekommen, die mit Gründung der Republik vor 75 Jahren beschlossene Modernisierung, der Anschluß der auf den Trümmern des Osmanischen Reiches entstandenen neuen Türkei an Europa, habe sich erfolgreich vollzogen. Das Erscheinungsbild der Menschen, die Auslagen der Boutiquen, Cafés und Kneipen, alles verströmt das Ambiente einer alten südeuropäischen Metropole.

Das Kontrastprogramm ist nur wenige Meter entfernt. Wer vom Beyoglu-Hügel zum Goldenen Horn hinabsteigt und in das Gassengewirr auf der anderen Seite des berühmten Wasserarms eintaucht, steht in einer anderen Welt. Fatih ist der Istanbuler Innenstadtbezirk, in dem die meisten Religiösen leben. An einigen Stellen haben sich ganze kurdische Dorfgemeinschaften niedergelassen. Das Verbot des Schleiers ist hier längst außer Kraft gesetzt, allerdings dominiert in der Türkei das nach religiöser Kleiderordnung getragene Kopftuch. Hier scheint Atatürk nicht vorbeigekommen zu sein. Fatih gemahnt eher an osmanische Zeiten.

Istanbul ist ein Mikrokosmos, in dem sich die Brüche und die Zerrissenheit der Republik im 75. Jahr ihres Bestehens wiederfinden lassen. Auf der einen Seite ist die Stadt ein hochmodernes Banken- und Medienzentrum, in dem enorme Profite eingefahren werden, auf der anderen Seite ein Sammelbecken für fast vier Millionen Kurden, die durch den Krieg im Südosten des Landes aus ihren Dörfern vertrieben wurden und in der 15-Millionen-Metropole untergetaucht sind. Dazwischen liegen die Zentren der islamischen Renaissance. Und obwohl sich in Istanbul die nach Westen orientierte Intelligenz des Landes sammelt, haben sich die Mehrheitsverhältnisse dramatisch verschoben. Seit 1993 wird ausgerechnet Istanbul von den Islamisten regiert.

Das Projekt des Kemalismus hat sicher nicht zu dem Land geführt, daß Atatürk sich erhofft hatte. Der nach französischem Vorbild geschaffene, aufgeklärte, moderne, streng laizistische, zentralistisch regierte Verfassungsstaat ließ sich in der Türkei nicht realisieren. Die Traditionen des Islam und der anatolischen Kultur fordern ihr Recht. Die Vorstellung, man könne eine Vielzahl von Volksgruppen per Dekret zu einem homogenen Staatsvolk verwandeln, hat sich als blutige Illusion erwiesen. Trotzdem hat die Türkei heute noch immer nicht zu einer Basis auf Grundlage der gesellschaftlichen Realitäten gefunden.

Mit Gewalt versuchen vor allem die Militärs, weiterhin den Kemalismus durchzusetzen. Wer wie die Kurden oder die Islamisten daran rüttelt, hat mit härtester Repression zu rechnen. Damit wird die politische Klasse des Landes, die eigentlich den gesellschaftlichen Kompromiß aushandeln müßte, zur Marionette der Militärs degradiert. Die meisten führenden Politiker sind in mafiöse Netze verstrickt — die Politik versinkt in Korruption. Die Situation ist so verfahren, daß viele auf den finalen Zusammenbruch warten. Danach droht das Chaos oder die Militärdiktatur.

Die 75-Jahr-Feiern sind ein gigantisches Vertuschungsmanöver. Als auf der Baustelle an der Istiklal die Hüllen fallen, ist ein riesiges Freiluftmuseum zum Ruhme der Republik entstanden. Mit Fotos, Plakaten und anderen Exponaten feiert die Republik sich selbst. Getreu Atatürks Motto: „Wie schön, sagen zu können, ich bin Türke.“

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