Unbedingt Durchhalten bis zum Jahr 2000

Die Absage beim EU-Gipfel zeigt: Rußlands Präsident ist aus dem Spiel und wird sich fortan als Privatmann mit Verfassungskosmetik beschäftigen. Die wichtigen Entscheidungen trifft Primakow  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

In den letzten Wochen war es gängige Praxis: Während Rußlands Präsident Boris Jelzin die meiste Zeit auf Regierungsdatschen und in Sanatorien verbrachte, erledigte Premier Jewgenij Primakow die dringlichen Alltagsgeschäfte. Daß Boris Jelzin seinen Regierungschef nun auch noch zum EU-Gipfel nach Österreich schickte, zeigt, wie schlecht es um den einstmals mächtigen Kremlpotentaten bestellt ist.

Die Entscheidung sei Jelzin schwer gefallen, meinte sein Pressesprecher Dmitrij Jakuschkin. Doch habe der Präsident verstanden, daß „statt auf den Inhalt der Verhandlungen alle auf seine Bewegungen und Sprache achtgeben würden“. Selbst geringe Belastungen scheint der Gesundheitszustand Jelzins nicht mehr zuzulassen. Sprachen die Ärzte bisher von chronischer Bronchitis leidet der Patient nun offiziell an Asthenie – einer allgemeinen Schwäche.

Anscheinend sah sich die Präsidialkanzlei gestern nun genötigt, den Offenbarungseid zu leisten. Oleg Sysujew, stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung, räumte in einem Interview der Zeitung Sewognja ein, strategische Entscheidungen seien nunmehr Aufgabe Primakows und seines Kabinetts. „Jetzt ist die Regierung in vollem Umfang für die Wirtschaft verantwortlich.“ Wichtigster Auftrag des Präsidenten sei, „seinem Nachfolger ein stabiles Machtgefüge zu übergeben.“ Sich von Alltagsgeschäften ablenken zu lassen, dazu hätte der Präsident kein Recht mehr. Die verbleibende Zeit bis zum Ende der Amtsperiode im Juli 2000 wird sich der Kremlchef daher mit „der Revision der Verfassung befassen“.

Das bedeutet: Jelzin zieht sich ins Privatleben zurück. Zur Zeit sucht die Opposition im Parlament noch nach Wegen, den Präsidenten durch ein Amtsenthebungsverfahren zu Fall zu bringen. Anklagepunkte sind Jelzins Kriegszug in Tschetschenien und die Auflösung der UdSSR 1991. Anscheinend baut die Präsidialverwaltung darauf, die Opposition könne sich durch Jelzins Verzicht auf die Macht gnädig stimmen lassen.

Selbst repräsentative Aufgaben wird der senile Kremlchef kaum noch wahrnehmen können. Auch ist fraglich, inwieweit er sich in der Verfassungsdebatte durchsetzen kann. Die Konstitution wurde 1993 Jelzin auf den Leib geschneidert. Der Kremlherr genießt fast unbeschränkte Vollmachten. Sollte eines Tages ein radikaler Poltiker an die Macht gelangen, könnte das in die Katastrophe führen.

Lange plädiert eine breite oppositionelle Phalanx dafür, die Kompetenzen des Präsidenten zugunsten der Legislative zu beschneiden. Eine Verfassunggebende Versammlung soll die Revision im nächsten Jahr vornehmen. Indes ist umstritten, wer der Versammlung angehören soll. Die Kommunisten würden es am liebsten im Parlament und Oberhaus unter sich ausmachen. Die Präsidialverwaltung will ein Zweikammernmodell. In der einen Kammer sitzen die vom Volk gewählten Vertreter, in der zweiten Fachleute.