Der Dalai Lama steckt in einem Zwiespalt. Je moderner sich das religiöse und weltliche Oberhaupt der Tibeter im Westen aufführt, desto mehr gerät der Umstand, der Anlaß seines Wirkens sein sollte, in den Hintergrund: die chinesische Besatzung Tibets. Die Weisheiten, die er zur Zeit in Deutschland verbreitet, haben mit dem harten Alltag seines Volkes nichts zu tun Von Georg Blume

Tibet nutzt der Tibetrummel nichts

Man muß kein Buddhismus-Experte sein, um dem Widerspruch zwischen der nach Westen verkündeten religiösen Liberalität des Dalai Lama und den strengen mittelalterlichen Bräuchen des Lamaismus in Tibet auf die Spur zukommen. Bei seinen derzeitigen „philosophischen Unterweisungen“ im Norden Deutschlands will der Dalai Lama niemanden bekehren – allein das hebt ihn von der christlichen Tradition ab. Ganz anders aber sieht der buddhistische Alltag in Tibet aus. Vor dem Jakhong-Tempel, dem religiösen Zentrum des Hochlandes, werfen sich täglich Tausende von Pilgern nach eingeschliffenem Ritual auf die Pflastersteine. Es sind meist Bauern, die nach einem langen Gebirgsweg voller Entbehrungen die Hauptstadt Lhasa erreichen.

Mit den Bergleuten ist nicht gut reden über die Probleme der Geistlichheit in der Welt von heute. Sie kennen nur einen Gott: den aus ihrer Heimat vertriebenen Dalai Lama. Dafür hassen sie die Chinesen und lieben ihren Gottkönig umso mehr. Nie würde ihnen in den Kopf kommen, daß dieser Mönch nur ein Mensch ist.

Das absolutistische Mandat, das ein großer Teil der tibetischen Bevölkerung dem Dalai Lama immer noch erteilt, wird im Westen entweder verschleiert oder es gilt bereits als politisch unbedenklich. „Seine Heiligkeit“, früher eine Anrede, die in der liberalen Öffentlichkeit nur ironisch gemeint sein konnte, gehört wieder zum guten Ton in Deutschland. Zumal der Religionsführer auf sein im Exil gegründetes Parlament verweisen kann, an das er im Fall der gewünschten Unabhängigkeit Tibets alle Macht delegieren will.

Mit anderen Worten: Man sieht dem sympathischen Mönch seinen Gottstatus nach, weil er sich den Deutschen gegenüber nicht so benimmt. Ungeklärt aber bleibt die Frage, wie sich der vermeintliche Gott seinen tibetischen Untertanen gegenüber im Falle eines Falles verhalten würde. Die wollen nämlich womöglich gar kein Parlament, sondern ihren Gottkönig.

Der Dalai Lama steckt in einem Zwiespalt: Je moderner er sich in Konkurrenz zum Papst und anderen religiösen Oberhäuptern im Westen aufführt, desto mehr gerät der eigentliche Skandal, der Anlaß seines Wirkens sein sollte – die Besatzung und Rückständigkeit Tibets – in den Hintergrund. Längst haben die Weisheiten, die er etwa über das moderne Eheleben in Deutschland verbreitet, nichts mehr mit dem Familienalltag in Tibet zu tun. „Sie lieben sich, heiraten, haben ein oder zwei Kinder, verlieren das Interesse aneinander und lassen sich scheiden“, so der Obermönch über westliche Ehen.

In vielen Dörfern Tibets aber heiraten die Menschen oft noch auf Geheiß der Älteren. Sie haben nicht ein oder zwei, sondern viele Kinder. Und sie dürfen nicht das Interesse aneinander verlieren, weil Singles in der Dorfgemeinschaft nicht überlebensfähig sind. Würde der Dalai Lama diese Zustände gegenüber seinem westlichen Publikum fortwährend betonen, geriete er selbst in den Ruf der Rückständigkeit. Zudem interessiert sich sein deutsches Millionenpublikum nicht für Tibet, sondern für die eigene Erleuchtung.

Die Logik der ganz auf das westliche Publikum ausgerichteten PR- Strategie der Exilregierung im indischen Dharamsala liegt also nicht in der Aufklärung über das eigene Land. Vielmehr geht es der Exil-Bewegung um Popularität im Westen, mit der man die Regierungen in Bonn und anderswo zwingen will, sich China gegenüber für die Sache Tibets einzusetzen.

Die ultima ratio dieser Strategie lautet, der Westen werde Tibet eines Tages freipressen. Und siehe da: Plötzlich vermeldet die österreichische EU-Präsidentschaft, daß Brüssel sich als Vermittler zwischen Peking und Dharamsala eingeschaltet habe. Das muß freilich nicht viel bedeuten. Erfolglos verhandelt wurde zwischen dem Dalai Lama und der kommunistischen Führung in Peking schon oft genug. Viel wichtigter ist die Frage, ob es zwischen Tibetern und Chinesen überhaupt noch realistische und vernünftige Kompromißlösungen gibt, die beide Seiten als verhandlungswürdig empfinden.

Für einen solchen Verhandlungsweg kann der westliche Tibet-Rummel von Nutzen sein, um Druck auf Peking auszuüben. Aber es liegt der Verdacht nahe, daß der Exilregierung in Dharamsala ihr Kampagnenerfolg so zu Kopfe steigt, daß sie ihre Rechnung ohne den chinesischen Wirt in Lhasa macht. Es hört sich zwar gut an, wenn der Dalai Lama sagt: „Wenn wir nach Tibet mit einem bestimmten Grad an Freiheit zurückkehren können, werde ich eine Regierung aufbauen, die in freien Wahlen gewählt wird, und der ich meine Autorität übertrage.“ Aber mit Peking führt man so keine Gespräche.

Realistische Verhandlungsaussichten mit der chinesischen Regierung gibt es wohl nur, wenn der Dalai Lama aufhört, vom Aufbau einer eigenen Regierung in Tibet zu reden und sich statt dessen auf seine Rolle als Religionsführer beschränkt. Die deutsche Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer hat auf ihrer jüngsten Reise nach Peking und Lhasa das denkbare Verhandlungsziel deutlich gemacht: ein Konkordat zwischen dem Dalai Lama und der KP Chinas, das die geistige und weltliche Führung über Tibet aufteilt.

Dabei ginge es nicht mehr um „Demokratie jetzt!“ in Tibet, eine Forderung, die ohnehin nicht originär von der in großer Armut lebenden Bergbevölkerung stammen würde. Vielmehr könnte die Rückkehr des Dalai Lama nach Lhasa unter den Bedingungen größtmöglicher religiöser Freiheit ausgehandelt werden – ein Vorhaben, das zumindest der ganz großen Mehrheit der tibetischen Landbevölkerung einen Kompromiß mit China wert ist. Denn ihr geht es zuvorderst eben nicht um neue politische Freiheiten, sondern um das Wiedersehen mit ihrem Gott.

Ein solches Räsonnieren auf der Grundlage der Tatsache mittelalterlicher Zustände in Tibet läßt allerdings die westlich-demokratische Medieneuphorie über Tibet nicht zu. Ebensowenig ist es erlaubt, das Feindbild von den chinesischen Völkermördern an der Realität der Besatzungspolitik zu messen. Antje Vollmer machte jüngst diese Erfahrung, als sie beim Besuch tibetischer Dörfer feststellen mußte, daß der bis heute gepflegte Begriff des Dalai Lama vom „kulturellen Völkermord“ in Tibet die Wirklichkeit verfehlt. Diese Einsicht brachte Vollmer einen Rüffel des tibetischen Informationsministers im Exil und erboste Kritiken in der deutschen Presse ein. Genau dagegen aber müßte sich der Dalai Lama verwahren: Der Gleichklang zwischen Regierungserklärungen aus Dharamsala und westlichen Pressestimmen erlaubt keine eigenständige Diplomatie mit Peking. Die aber bleibt Voraussetzung für jede Verbesserung vor Ort.

Es kommt darauf an, Tibet nicht nur mit den Augen von Jean-Jacques Annaud und Martin Scorsese zu sehen, die dem Westen mit ihren Leinwand-Epen über Heinrich Harrer und den Dalai Lama noch einmal die chinesischen Greueltaten von der Eroberung bis zur Kulturrevolution vorführten. Im Tibet von heute kommen mit den chinesischen Reformen auch Coca-Cola und Kodak ins Hochland. Kein Tibeter kann sich wünschen, daß solche Fortschritte nach der Rückkehr des Gottheiligen wieder aufgehoben werden. Auch insofern kann eine Teilung der Macht in Tibet für alle nützlich sein.