Der richtige Abstand Von Björn Blaschke

„Man spielt nicht mit Essen“, „Man wirft nichts auf die Straße...“ – wer erinnerte sich nicht dieser mütterlichen Ermahnungen? Spätestens seit sich auch die etablierten Parteien für den Umweltschutz zuständig fühlen, wissen wir alle, daß Mutti recht hatte. Und benutzen Deo ohne Treibgas, bringen unsere Zeitungen zum Altpapier und kaufen sie später als Recycling-Klopapier wieder zurück.

Jahrzehnte hatte ich mich daran gehalten – Umweltschutz wie an Mutterns Brust: warm, weich und kuschelig. Dann jedoch – ich war Ende 20 – passierte es zum ersten Mal: Ich wollte es eigentlich gar nicht. Der Gang zum Ascheneimer hatte mir noch nie etwas ausgemacht und ersetzte außerdem jede andere sportliche Übung. Aber von einem Moment auf den anderen tauchten diese Werbespots mit Diät-Margarine vor meinem inneren Auge auf: „Ich leb' mein Leben ganz spontan.“ Und eine Kakophonie von Liedern mit dem Wörtchen freedom im Refrain ließ mein Trommelfell erzittern. Ich war plötzlich überwältigt von der Lust, etwas wegzuwerfen; irgend etwas, einfach nur so – zum Spaß. Ich versuchte es mit den Dingen, die ich in meiner Jackentasche fand: einen Apfelgriebsch, zwei Stück Orangenschalen, eine Bananenschale. Die hatten jedoch alle einen Nachteil: Sie waren „biologisch abbaubar“. Ich aber wollte wirklich frei sein – und etwas wegwerfen, das nicht einfach vom Regen aufgeweicht wird. Am besten Staniol. Und ich tat es: Knüll und schnipp – und weg damit...

Nach diesem Selbstbefreiungsakt drohte ich in einen Glücksrausch zu verfallen – mußte aber dennoch mein Gewissen beruhigen, hatte ich mich doch an Mutter Natur versündigt. Also schlüpfte ich in ein Büßergewand aus Hanf, machte mir die üblichen schweren Vorwürfe und begab mich auf einen Canossagang zum nächsten Müllcontainer des Dualen Systems. Dabei fragte ich mich ständig: Was hat mich nur zu dieser Freveltat getrieben? Die Nachgeburt des Umweltbewußtseins? Das Böse, das noch in mir steckt? Eine Überreaktion auf die Werbung? Oder später Trotz gegen Mutti?

Im Laufe der Jahre dämmerte es mir: In Wahrheit unterwirft sich gesellschaftlichen Konventionen, wer immer brav zum Mülleimer trabt. Mithin hat man die Alternative: Entweder wirft man sein Zeug in die Welt hinaus, oder man unterwirft sich – und kann dann eigentlich selbst in den Container hüpfen. Außerdem tut's ja doch jeder! Die einen heimlich nachts; die anderen völlig unbewußt – und das sind ja wohl die Schlimmsten...

Um den richtigen Abstand zum Umweltschutz zu bekommen, eine Katharsis zu erleben durch das Zusammenspiel von schlechtem Gewissen und Befreiung, entsorge ich heute einmal täglich garantiert umweltschädlichen Müll. Ich trete kurz auf die Straße, werfe mit Staniolkugeln, Plastiktüten oder Kühlschränken um mich, und manchmal leiste ich es mir sogar, einen Autoreifen anzuzünden. Man gönnt sich ja sonst nichts. So wird mir alle 24 Stunden klar, wie umweltbewußt ich eigentlich bin, und schon nach einer kurzen, aber heftigen Umweltbewußtseinserweiterung kann ich wieder nach Hause. Und damit sich auch keine Katerstimmung einstellt, zücke ich dann in meiner Küche ein großes Tortenmesser, schneide ihn an und spiele mit einem feinen Mutterkuchen.