Ich sah den Dalai Lama!

Der Mann in der Kneipe trägt schwarze Lederhose, schwarzes Hemd, schwarze Lederweste und schwarze Cowboystiefel. Er ist zirka einsachtundsechzig hoch, einszweiundvierzig breit und einsdreiundzwanzig tief – ein echter Brustkasten von Mann mit der Aura eines abgesägten Wandschranks. Und eine Abgesägte hat er sowieso zu Hause – für den Fall, daß der Pitbull, der neben ihm „Sitz!“ macht, einmal versagt. Der Pitbull ist ein Weibchen und heißt Mirza. „Die tut nichts“, sagt der kompakte Mann und lächelt milde. „Die hab' ich ganz persönlich umerzogen.“

„Umerzogen“. Sieht so Erleuchtung aus?, fragt man sich. Frieden? Eine bessere Welt, eine Welt mit einem Lächeln? Skepsis scheint angebracht: Der Mann steht im Hinterzimmer der Kneipe vor einer Dart-Scheibe, er ist kahlrasiert, und seinen zehn Zoll breiten Nacken schmückt wulstig ein bratwurstdicker Spreckring. Er trinkt große Quanten Malzwhisky, und Kokain zieht er sich grammweise vom Kuchenblech.

Er nimmt einen Pfeil in die Hand, beugt sich vor und wirft den Pfeil ins Zentrum der Scheibe, ins Bull's Eye. Dann dreht er sich um, grinst und sagt: „Siehsse – dat iss Zen.“ Und trifft damit, wahrscheinlich ohne es zu ahnen, des Buddhas Kern.

Ja, ich sah, was Zen war, ich sah den Dalai Lama. Es war nicht in Schneverdingen. Wiglaf Droste