„Jim ist ein honoriger Mann“

Am kommenden Dienstag entscheidet sich, wer den achten Wahlkreis von Virginia künftig im US-Kongreß vertritt. Ob der Demokrat Moran seinen Sitz behauptet, hängt auch von der Spendierfreude der Wähler ab  ■ Aus Arlington Peter Tautfest

An der Stirnwand des Gemeindesaals der Lomax African Methodist Episcopal Church in Arlington hängt ein aus vielen Computerausdrukken zusammengesetztes Spruchband: „Gott befähigt zum seelischen, körperlichen und finanziellen Erfolg.“ Etwa 60 Leute drängen sich im Souterrain der Kirche, vorwiegend Schwarze aus Amerika und Nordafrika, Hispanics aus El Salvador und Kolumbien, Asiaten aus Korea, Laos und Kambodscha. Blaue, weiße und rote Luftballons schweben an die Decke, Kinder haschen nach deren Schnüren. Das Buffet ist von einem äthiopischen und einem mexikanischen Restaurant gespendet.

Am Podium steht jetzt Jim Moran, der Kandidat der Demokraten für den achten Wahlkreis von Virginia, der am 3. November bei den Kongreßwahlen seinen Platz im amerikanischen Repräsentantenhaus verteidigt. „Im Wahlkampf geht es immer auch um Wahrheit“, sagt er. „Manche Wahrheiten tun weh. Die Wahrheit aber ist, daß wir Amerikaner dieses Land den Indianern gestohlen und seinen Reichtum aus den Sklaven gepreßt haben. Noch heute speist sich unser Wirtschaftswachstum zu einem großen Teil aus der unterbezahlten Arbeit illegaler Immigranten.“

Der achte Wahlkreis ist ein Teil jenes uferlosen suburbanen Breis, der sich jenseits des Potomac vor Washington ergießt und die Stadt Alexandria sowie den Arlington County und Teile von Fairfax County umfaßt. Einer der wichtigsten Arbeitgeber in Arlington County ist das Pentagon. Hier entstanden Anfang der fünfziger Jahre in einem Bauboom preisgünstige Häuser und Mietwohnungen für Soldatenfamilien und Beamte.

Inzwischen sind deren Ansprüche und Wohnstandards gestiegen. In den alten Häusern brachte die Regierung vietnamesische, laotische und kambodschanische Flüchtlinge unter, ihnen folgten Nordafrikaner und Latinos. Der Stadtteil Arlandria, zwischen Alexandria und Arlington gelegen, heißt heute nach einem salvadorianischen Dorf Chirilagua. In Arlington leben mehr Salvadorianer als in San Salvador, und in den Schulen des Countys werden 35 Sprachen gesprochen.

Jim Moran, ein Herr in den besten Jahren, hat schlohweißes Haar. Er nestelt an seinem Gürtel, denn die Jeans, in denen er an diesem Abend steckt, sitzen nicht so gut wie die Anzüge, die er sonst trägt. Er kommt aus Alexandria, das sich zu Washington verhält wie Potsdam zu Berlin. Zu der in dieser Kirche versammelten Klientel spricht er nicht oft. Sollte er sich in diesem Kreis unwohl fühlen, läßt er sich das nicht anmerken.

Jim Moran hat sich einen Namen damit gemacht, daß er zusammen mit 34 anderen demokratischen Abgeordneten für die Impeachment-Resolution der Republikaner und damit gegen seinen Präsidenten gestimmt hat. Clinton soll dafür Verständnis gehabt haben, daß Kandidaten, die um ihre Wiederwahl bangten gegen ihn stimmen mußten. Jim Moran muß für sein Votum andere Gründe gehabt haben, denn er vertritt einen Wahlkreis, den man im Volksmund die „Volksrepublik von Nordvirginia“ nennt, eine demokratische Hochburg im konservativen Virginia. Die Stimmen derer, die er hier umwirbt, braucht er eigentlich nicht zu seiner Wiederwahl – die meisten können ohnehin nicht wählen, weil sie (noch) keine US-amerikanische Staatsbürgerschaft besitzen. Jim Moran hat sich den Ruf einer ehrlichen Haut erworben, und bei den in der Lomax-Kirche versammelten Menschen kommt er gut an. Die Demokraten von Arlington werden nachher viele neue Mitglieder aufnehmen.

Auf der anderen Seite des Potomacs sieht sich Diana Griswald in dem rosa drapierten Raum einer großen alten Stadtvilla um: „Dieses Zimmer erinnert an den Roosevelt-Raum, finden Sie nicht?“ Candace Bergen nickt, „aber das Rosa im Weißen Haus ist gedeckter“. Die beiden Damen geben zu erkennen, daß sie sich im Weißen Haus auskennen. Dies ist das Haus von Boyden Gray, Justitiar des Weißen Hauses unter Reagan und Bush. Vor dem Kamin und unter alten Stichen hat sich eine illustre Gesellschaft eingefunden: Howard Baker, ehemaliger Senator aus Kentucky und Stabschef Reagans im Weißem Haus, ist ebenso da wie Pam Prochnow, die frühere Pressesprecherin von Nancy Reagan, und Jim Miller natürlich, der ehemalige Finanzminister Reagans.

Gekommen sind diese Leute alle, um eine kleine, quirlige und unausgesetzt strahlende Frau im Hosenanzug mit auftoupiertem weißblondem Haar zu sehen. Demaris Miller, Jim Millers Frau, ist die Kandidatin der Republikaner, die Jim Moran den achten Wahlkreis von Virginia streitig machen will. „Jim Moran ist ja so dumm, nein wirklich. Der begreift einfach nicht, daß die Rentenversicherung ein Pyramidensystem ist, bei dem alle einzahlen, aber nur die ersten kassieren.“ Wichtiger noch als die Privatisierung des Rentensystems aber ist ihr die Verbreiterung der Wilson Brücke über den Potomac, die den achten Wahlkreis mit der Hauptstadt verbindet.

Das und Steuersenkungen natürlich sind ihre Wahlkampfthemen. „Moran hat sich nicht für die Bewilligung von Bundesmitteln für den Brückenbau eingesetzt“, schimpft Demaris, „weil er alter Alexandriner ist, und die feinen Herrschaften in Alexandria denken, daß alle Leute – außer ihnen selbst natürlich – öffentliche Verkehrsmittel benutzen sollen, damit ihr süßes Städtchen nicht noch mehr im Verkehr erstickt. Der achte Wahlkreis aber besteht nicht nur als Alexandria.“

Boyden Grays schönes Haus steht auch nicht im achten Wahlkreis, sondern in Washingtons feinem Georgetown. „Dies ist keine Wahlkampfveranstaltung“, erläutert Jenny Bell, Demaris Millers Kampagnenleiterin, sondern ein „Fundraiser“. Die illustre Gesellschaft schaut sich ein Video des neuesten Wahlkampfspots an, den Demaris Miller sich geleistet hat. „Heute hat mich doch jemand auf der Straße angesprochen, ob ich die Großmutter-Lehrerin-Krankenschwester bin, die für den Kongreß kandidiert“, berichtet Demaris strahlend. „Meine Message beginnt zu wirken.“

In ihrer Fernsehwerbung stellt sie sich mit Enkel im Arm als die Frau aus dem Volk vor, die den Berufspolitikern zeigen wird, was die Amerikaner draußen im Lande wirklich wollen. Wer viel Geld in Demaris' Wahlkampfkasse steckt, bekommt ein Erinnerungsfoto von der Kandidatin zusammen mit den republikanischen Größen. Wer die kleine Fünfzigerin am Arm des stattlichen Howard Baker und an der Seite des hoch aufragenden und leicht nach vorne gebeugten Boyden Gray sieht, fragt sich, wie unabhängig sie wohl von jenem politischen Establishment sein wird, das sie in ihren Wahlkampfspots geißelt.

Demaris Miller macht freilich auch regulären Wahlkampf – am liebsten von der Ladefläche ihres knallroten Pick-ups aus, der zu ihrem Markenzeichen geworden ist und mit dem sie zur Rush-hour an den U-Bahn-Ausgängen vorfährt. Ob ein Kandidat aussichtsreich ist, hängt aber vor allem von dem Geld ab, das er schon gesammelt hat, und von der Fähigkeit, noch mehr Spender zu mobilisieren. Jim Moran, der natürlich nicht nur in Kirchen vor Immigranten Wahlkampf macht, versteht sich blendend auf das Geschäft des Spendeneintreibens bei potenter Klientel. Er hat in seiner Wahlkampfschatulle mehr Geld als Demaris Miller, gibt es aber nicht aus – das hat er gar nicht nötig. Sie hingegen verstand es, in den letzten Tagen des Wahlkampfs mehr Geld einzutreiben als er.

Wichtig sind auch Gefälligkeiten, mit denen man den Wählern und Geldgebern ihr politisches Engagement vergilt. „Kongreßmann Moran hat einen sehr guten Wählerdienst“, sagt seine Wahlkampfleiterin. „Den rufen die Leute an, wenn in ihrer Straße der Schnee nicht geräumt wurde oder wenn sie am Abend vor einer Auslandsreise feststellen, daß ihr Paß abgelaufen ist. Morans Büro kümmert sich dann um solche kleinen Sorgen.“ Dagegen kann Demaris Miller noch nicht an.

Und welche Rolle spielt Bill Clintons Sexaffäre bei der Wahl am kommenden Dienstag? „Wir haben soviel Ärger mit Jims Abstimmungsverhalten“, erklärt Betsy Korona, eine 17jährige Wahlkampfhelferin, deren Einsatz Bestandteil ihres Sozialkundekurses an der Bishop Iverton Highschool ist. „Wir werden ständig danach gefragt, warum Jim gegen den Präsidenten gestimmt hat, manche Leute werden richtig böse.“ Eine ältere Dame, der Jim Moran am Wegrand einer Parade die Hand schüttelt, sieht das ganz anders: „Ich kann Clinton nicht ausstehen. Jim aber ist ein honoriger Mann“.

„Ich glaube, ich habe durch mein Votum im Kongreß genauso viele Wähler verärgert, wie ich hinzugewonnen habe“, meint der Kandidat. Warum er dann gegen Clinton gestimmt hat? „Das ist doch ganz einfach“, lacht Demaris Miller, „der liest dieselben Meinungsumfragen wie wir. Das hat mit aufrechter Haltung nichts zu tun.“

Arlington teilt sich zusehends in den wohlhabenderen Norden und den Süden, der zu den ärmsten Regionen des Großraums Washington gehört. „Die Spaltung des achten Bezirks?“ Demaris' Wahlkampfleiterin Jenny Bell versteht nicht. „Nein, das ist für uns kein Thema.“ Mat Scruggs hingegen, Jim Morans PR-Mann, entsinnt sich einer Begegnung mit dem Bürgermeister von Arlingtons Partnerstadt Aachen. „Was tun Sie, um die Türken zu erreichen, habe ich Bürgermeister Linden gefragt, als der vor zwei Jahren hier zu Besuch war. ,Die Türken?‘ hat der mich verständnislos gefragt, ,aber das sind doch Moslems!‘“ berichtet Scruggs. Er hat durchgesetzt, daß Moran mit Walter Tejada einen Latino in sein Team aufnimmt. Der ist es, der den Abend im Keller der Lomax-Kirche organisiert hat. Jim Moran weiß natürlich, wo sein Brot gebuttert wird, und zwar in Alexandria und in Nord-Arlington, aber die demographische Umwälzung hält an, und da kann es nicht schaden, wenn er sich schon heute darin übt, auch um die Stimmen jener zu werben, die morgen die Mehrheit im achten Wahlkreis sein werden.