Pinochet in Großbritannien immun

Londons oberste Richter entscheiden, daß die Verhaftung von Chiles Ex-Diktator illegal war. Nach Hause darf er trotzdem noch nicht. Menschenrechtler fürchten, daß England zum sicheren Hafen für Despoten wird  ■ Von Ralf Sotscheck

Dublin (taz) – In Großbritannien lebe es sich am besten, hatte Augusto Pinochet einmal gesagt. Die Menschen dort seien von einer „zivilisierten Mäßigung“, die ihresgleichen suche. Und ihre Gerichte sind großzügig, kann er nun hinzufügen: Der Londoner High Court hat dem früheren chilenischen Diktator am Dienstag abend nicht nur diplomatische Immunität zugesichert und seine Auslieferung nach Spanien abgelehnt, sondern ihm auch die Gerichtskosten von umgerechnet fast einer Million Mark aus der Staatskasse zuerkannt.

Ebenfalls vorgestern entschied der Generalstaatsanwalt John Morris, daß Pinochet in Großbritannien nicht wegen Mord und Folter während seiner Schreckensherrschaft angeklagt werden könne, da es „nach englischem Recht keine ausreichenden zulässigen Beweismittel für ein Vergehen“ gebe. Zwei Londoner Anwälte hatten im Namen von mehreren Folteropfern Strafantrag gestellt.

Nach Hause darf Pinochet allerdings noch nicht. Die Staatsanwaltschaft hat Berufung gegen das Urteil eingelegt, Anfang nächster Woche wollen Großbritanniens oberste Richter im Oberhaus darüber entscheiden. Die Eile ist ungewöhnlich. Normalerweise ist ein Verfahren vor der höchsten Instanz langwierig. Es ist kaum damit zu rechnen, daß die obersten Richter das einstimmige Urteil des High Court aufheben werden.

Möglicherwiese kommt Pinochet bereits heute beim Haftprüfungstermin frei: Seine Anwälte haben einen Antrag auf Freilassung gegen Kaution gestellt, da sich der Gesundheitszustand des 82jährigen in dem Londoner Krankenhaus, wo er am Rücken operiert wurde, angeblich rapide verschlechtert hat.

Viele Chilenen, die vor dem Krankenhaus Mahnwache gehalten hatten, brachen nach der Urteilsverkündung in Tränen aus. Die Menschenrechtsorganisation amnesty international bezeichnete die Entscheidung als „unvereinbar mit dem Geist der internationalen Rechtsprechung“. Die Medizinische Stiftung für Folteropfer fragte: „Bedeutet das, daß Leute wie Saddam Hussein und Slobodan Milošević um die Welt reisen können, weil man sie nicht belangen kann?“ Mit seiner Entscheidung habe das Gericht „England zum sicheren Hafen für Diktatoren und ehemalige Diktatoren erklärt.“ Der linke Labour-Abgeordnete Ken Livingstone forderte den Rücktritt der Richter, weil sie „jemanden schützen, der nicht nur spanische, sondern auch britische Bürger ermordet und gefoltert“ habe.

Die britische Regierung hat sich seit dem provisorischen Haftbefehl gegen Pinochet vor vierzehn Tagen bedeckt gehalten. Nur Handelsminister Peter Mandelson hatte gesagt, bei der Vorstellung, daß ein brutaler Diktator wie Pinochet diplomatische Immunität beantrage, würde sich ihm der Magen umdrehen. Premierminister Tony Blair sagte am Dienstag: „Die Regierung hatte mit dem juristischen Prozeß und der Ausstellung von Haftbefehlen nichts zu tun. Das geschah aufgrund des Antrags der spanischen Behörden über Interpol an das britische Gericht.“

Das ist nicht ganz richtig: Es lag an Innenminister Jack Straw zu entscheiden, ob der spanische Haftbefehl zu vollstrecken sei oder nicht. Beamte im Außenministerium hatten ihm versichert, daß eine diplomatische Immunität für General Pinochet nicht gelte. Genausowenig ist das Urteil des High Court vorgestern ohne Plazet der Londoner Regierung gefällt worden. Verschiedene britische Zeitungen spekulierten gestern, den Politikern sei klargeworden, daß sie mit einer Auslieferung Pinochets einen Präzedenzfall geschaffen hätten. Danach hätte zum Beispiel auch Litauen einen Auslieferungsantrag für den früheren Chef der Sowjetunion, Michael Gorbatschow – gegen ihn liegt in Litauen ein Haftbefehl vor –, stellen können, wenn er sich zu einem seiner zahlreichen Besuche in Großbritannien aufhält. Da war die Blamage wegen der Freilassung Pinochets wohl das kleinere Übel.