Die heilige Daniela aus Ostberlin

Die Schriftstellerin Daniela Dahn kämpft mit ihren Büchern gegen die Selbstgerechtigkeit des Westens. Sie gilt als „Stimme des Ostens“. Aber wie klingt eine ostdeutsche Stimme? Wer wird dazu gemacht? Von wem? Und vor allem: warum? Müssen ostdeutsche Stimmen so sein, wie der Westen denkt, daß der Osten ist? Sind sie gar eine Erfindung des Westens? Vor allem westdeutsche Medien haben aus Daniela Dahn eine ostdeutsche Jeanne d'Arc gemacht. Die Schriftstellerin wehrt sich gegen diese Stilisierung – um a Ende doch die Rolle der heiligen Johanna zu spielen. Eine Spurensuche  ■ von
Jens König

Roman Herzog schweigt. Lord Dahrendorf schüttelt verständnislos den Kopf. Horst Teltschik ist sauer.

Sie haben sich zusammen mit anderen hochkarätigen Politikern, Wissenschaftlern und Künstlern im Berliner Schloß Bellevue zum 110. Bergedorfer Gesprächskreis versammelt, um über Wege aus der blockierten Gesellschaft zu diskutieren – und die einzige aus dem Osten in dieser Runde hält dem Westen seine Versäumnisse vor. Daniela Dahn ist nicht gerade dabei, sich beliebt zu machen.

Mit der Unnachsichtigkeit einer Staatsanwältin zählt sie Fehler um Fehler auf, die bei der deutschen Vereinigung gemacht worden sind. Wirtschafts- und Währungsunion. Eigentumsregelung. Treuhandanstalt. Radikaler Austausch der östlichen Eliten. Sie hält sich dabei gern an Fakten und Zahlen.

Kühl beschreibt sie den Anteil Ostdeutscher an den heutigen Führungspositionen im Osten: Wirtschaft ein Prozent. Militär null Prozent. Wissenschaft drei Prozent. Gewerkschaften drei Prozent. In Kultur und Medien sieht es ähnlich aus.

Fast jeder ihrer Sätze hört sich in dieser noblen Umgebung wie eine Provokation an: Die Währungsunion hatte die Wirkung einer ökonomischen Atombombe. Ostdeutschland ist heute viel bankrotter und höher verschuldet, als es die DDR jemals war. Im Osten haben sich Bedingungen etabliert, die die Menschen dort eindeutig benachteiligen. Daniela Dahn zitiert Umfragen, nach denen sich heute gerade neun Prozent der Ostdeutschen als vollwertige Bundesbürger fühlen. „Ich selbst“, fügt sie an, „zähle mich übrigens dazu.“

Horst Teltschik kann sich nicht länger zurückhalten. „Auch wenn ich mich gelegentlich über die Betroffenheitskultur, die in Deutschland Konjunktur hat, lustig mache“, sagt der BMW-Manager gereizt, „so muß ich zugeben, daß mich Ausführungen wie die von Ihnen, Frau Dahn, persönlich sehr betroffen machen.“

Teltschik fühlt sich angegriffen. Zur Zeit der Wiedervereinigung war er Kohls außenpolitischer Berater und einer der engsten Vertrauten des Kanzlers. „Hinterher kann man alles besser wissen“, ruft er der Schriftstellerin zu und beschreibt, warum die Vereinigung nicht anders ablaufen konnte, als sie abgelaufen ist.

Unterstützung bekommt Teltschik vom Wirtschaftswissenschaftler Meinhard Miegel. Ostdeutschland sei im Vergleich zu Polen, Tschechien oder Ungarn eine ausgesprochene Erfolgsstory, sagt er. Der großen Mehrheit der Ostdeutschen gehe es besser als früher, alles andere sei Legendenbildung.

„Es gibt historische Situationen“, doziert Lord Dahrendorf, „in denen es unvermeidlich ist, Fehler zu machen. Das entschuldigt die Fehler nicht völlig, aber es macht wenig Sinn, darüber zu diskutieren.“

Altbundespräsident Richard von Weizsäcker schlichtet. Mit Ökonomie allein, sagt er, werden wir die Folgen der Vereinigung nicht erklären können. „Deshalb sollten wir Frau Dahn nicht nur mit lauter richtigen Details zuschütten, sondern ihr trotz all unserer ökonomischen und außenpolitisch zutreffenden Erkenntnisse zuhören, wenn es darum geht, zu erfahren, wo vielen Ostdeutschen heute der Schuh drückt.“

„Ich bin ja bereit, Frau Dahn zuzuhören“, räumt Teltschik großzügig ein, „aber das gilt auch umgekehrt.“

Gegen Legendenbildung sollte man in der Tat angehen, antwortet Daniela Dahn ganz ruhig, aber wenn hier Legendenbildung betrieben werde, dann von Leuten wie Teltschik und Miegel.

Mischt hier eine kleine Frau die großen Männer auf? Schafft eine Schriftstellerin allein, was der ganze Osten nicht geschafft hat, die Volkskammer nicht und nicht die PDS, kein Modrow und kein de Maizière, nicht die Stolpes und nicht die Hildebrandts: sich Respekt zu verschaffen? Respekt gegenüber ihren Gefühlen, ihrer politischen Haltung, ihrer Biographie?

Warum hören ihr im Bergedorfer Gesprächskreis eigentlich alle zu? Aus lauter Höflichkeit? Das ist nicht auszuschließen, schließlich sitzen im Schloß Bellevue Männer (und wenige Frauen) von Welt zusammen, eine ehrenwerte Gesellschaft sozusagen, in der gute Manieren selbstverständlich sind. Oder hat Richard von Weizsäcker, der Vorsitzende des Gesprächskreises, Daniela Dahn deswegen eingeladen, weil sie eine Stellvertreterin ist?

Eine, die für viele spricht, die so denken und fühlen wie sie? Gilt die Aufmerksamkeit also gar nicht so sehr der erfolgreichen Autorin Daniela Dahn, sondern einer, wie es so schön heißt, „Stimme des Ostens“? Oder ist beides vielleicht gar nicht mehr auseinanderzuhalten, Daniela Dahn und die Stimme des Ostens?

Das wirft eine grundsätzliche Frage auf: Was eigentlich ist eine Stimme des Ostens? Wer wird dazu gemacht? Von wem? Und vor allem: warum?

Ostdeutsche Stimmen zeichnen sich zuallererst dadurch aus, daß sie einfach anders sind als – ja, als was? Als „westdeutsche Stimmen“? Die gibt es nicht. Offensichtlich braucht nur derjenige eine eigene Stimme, der für sprachlos gehalten wird. Ostdeutsche Stimmen müssen authentisch sein, sie müssen ein bestimmtes Lebensgefühl wiedergeben, sie müssen das Sprachrohr von vielen sein. Und sie müssen entdeckt und „gemacht“ werden, von einer Öffentlichkeit, die wenig über den Osten weiß, weil sie im Westen groß geworden ist. Die Ostdeutschen bleiben jenseits dieser Öffentlichkeit, jenseits der großen Medien und Verlage, die nicht ihre sind, lieber unter sich.

Müssen ostdeutsche Stimmen also vor allem so sein, wie der Westen denkt, daß der Osten ist? Sind sie gar eine Erfindung des Westens, der am Osten nicht mehr desinteressiert ist, aber immer noch wenig mit ihm anzufangen weiß? Sind, so gesehen, ostdeutsche Stimmen vielleicht Ausdruck eines schlechten Gewissens? Hören Herzog und Weizsäcker, Dahrendorf, Teltschik und Miegel deswegen der kleinen Frau zu?

Ich eine Stimme des Ostens? Daniela Dahn hält das für Blödsinn. Ich bin ich – so sieht sie sich selbst. Sie spiele keine Rollen, sagt sie, und eine Stimme von irgendwem sei sie schon gar nicht. Man nimmt ihr diese mit Nachdruck gesprochenen Sätze im ersten Moment sofort ab.

Aber: Wer hat schon in der Hand, welche Rollen andere für einen vorgesehen haben?

Es war reiner Zufall, daß Daniela Dahn neben Michael Naumann saß. Naumann, damals Leiter des Rowohlt-Verlages, war wie Dahn zu einem Treffen ost- und westdeutscher Autoren auf die Insel Hiddensee eingeladen. Bei der Suppe stellte der Verleger seiner Tischdame die harmlose Frage, woran sie gerade arbeite.

Dahn, zum Small talk nur wenig begabt, kam, wie es ihre Art ist, sofort auf den Punkt: Sie schreibe im Moment so gut wie gar nicht, erzählte sie. Ihr bleibe kaum Zeit dafür, weil sie als Sprecherin einer Bürgerinitiative in ihrer Reihenhaussiedlung in Berlin-Adlershof genug zu tun habe. Immer wieder müßten ihre Nachbarn und sie sich gegen Rückgabeforderungen aus dem Westen wehren. Naumann reagierte sofort: Er fand das Thema spannend, und schon beim Nachtisch hatte er Dahn dazu überredet, aus der ganzen Geschichte ein Buch zu machen.

Im Jahr darauf, 1994, war es fertig: „Wir bleiben hier oder Wem gehört der Osten?“ Der Untertitel: „Vom Kampf um Häuser und Wohnungen in den neuen Bundesländern“. Es geht um die Geschichte der Vermögensregelung in Ostdeutschland und die schwerwiegenden Folgen des Prinzips „Rückgabe vor Entschädigung“. Nicht gerade ein Buch, auf das die Republik gewartet hat, meinten viele, und das auch noch von einer Autorin, deren Name im Westen so gut wie keiner kennt. Der Verlag verzichtete vor lauter Selbstzweifel sogar auf Werbung. Doch dann stand das Buch monatelang in den Bestsellerlisten, es wurde über 20.000mal verkauft. Ein Erfolg, den bis heute keiner so richtig erklären kann.

Was lag da näher, als die Erfolgsautorin ein Jahr später erneut anzusprechen? Rüdiger Dammann, Lektor des Rowohlt- Verlages, der mit ihr schon beim ersten Buch zusammengearbeitet hatte, fragte Daniela Dahn, ob sie nicht Lust habe, ein Buch über die Unzufriedenheit im Osten zu schreiben, über den „Osttrotz“, wie Dammann sich ausdrückte.

Osttrotz? fragte Dahn irritiert. Das Thema, das Dammann fesselte, war für sie keines. Osttrotz! Schon das Wort war in ihren Augen eine einzige Erfindung des Westens, der sich damit die Probleme im Osten zu erklären versuchte. Glauben Sie wirklich, fragte sie Dammann, daß wir im Osten mehr aufzuarbeiten haben als Sie im Westen, daß man bei Ihnen dabei so viel offener ist?

Davon gehe ich allerdings aus, antwortete Dammann.

Ich glaube, die Summe der Verdrängung ist immer gleich, entgegnete Dahn.

Das würde bedeuten, daß auch die Summe der Schuld gleich sein müßte, erwiderte Dammann. Und: Auf den Beweis wäre ich sehr gespannt.

Daniela Dahn fand Gefallen an dieser Idee. Zwölf Monate später liegt ihr zweites Buch vor: „Westwärts und nicht vergessen. Vom Unbehagen in der Einheit“. Darin erklärt und rechtfertigt sie, ohne Larmoyanz, ihr Leben in der DDR, gleichzeitig polemisiert sie gegen die Selbstgerechtigkeit des Westens. „Der Westen liebt die Vorstellung“, sagt Daniela Dahn, „diese unterdrückten Leute aus dem Unrechtsregime wollen nichts anderes, als über Nacht genauso zu werden wie wir.“

Diese Arroganz hält Dahn für eine der Hauptursachen des Frustes im Osten. Aus Wut über diese Selbstgerechtigkeit formuliert sie eine schlichte Botschaft: Die DDR ist zwar zu Recht untergegangen, aber so schlecht war vieles in ihr nicht; die Bundesrepublik hat zweifellos ihre guten Seiten, aber so toll, wie ihr uns immer vormacht, seid ihr im Westen nun auch wieder nicht!

Ihr wollt die Sieger der Geschichte sein? fragt Daniela Dahn und entwickelt in ihrem Buch eine so einfache wie umstrittene Methode, die Frage zu beantworten: Sie vergleicht die DDR und die BRD, ohne sie deshalb gleichzusetzen. Sie stellt die Anpassung in der DDR einer mindestens ebenso großen Anpassung heutzutage gegenüber. Sie schreibt: „Eine der Lebenslügen der Westdeutschen besteht in der Annahme, sie seien alle unangepaßte Individualisten.“

Was die DDR betrifft, ist für Dahn das Unrecht der politischen Justiz „das düsterste Kapitel“, sie nimmt sich aber auch heraus, dem Rechtsstaat Bundesrepublik politische Justiz vorzuwerfen.

Sie spricht von einer „poststalinistischen DDR“, aber auch, was den Umgang nach 1945 mit den Nazis im Vergleich zu dem heutigen mit DDR-Funktionären betrifft, von einer „finanzstalinistischen BRD“. Ihre Bilanz: „Die Summe der Repressionen ist immer gleich.“

Trotz oder gerade wegen dieser Provokationen – „Westwärts und nicht vergessen“ wird, ebenso wie Dahns erstes Buch im neuen Deutschland, ein Überraschungserfolg. Über 30.000 verkaufte Exemplare, die Hälfte davon im Westen, Rezensionen in allen großen Zeitungen, Lesungen, Einladungen ins Ausland. Günter Gaus nennt es ein „Oppositionsbuch im allerbesten Sinne“, und Herbert Riehl- Heyse schreibt in der Südeutschen Zeitung: „Soweit ich sehe, hat seit der Wiedervereinigung niemand anderer so scharf und so wenig schüchtern die zwei Staaten verglichen.“

Aus Daniela Dahn wird auf einmal die „Jeanne d'Arc des Ostgefühls“ – eine unbeugsame Streiterin für ihren Glauben. Ein anderer schreibt: „Sie ist offenbar eine von jenen Frauen, die sich nicht so richtig fürchten können, vor nichts und niemandem.“ Woanders heißt es: „Sie trifft haargenau das Lebensgefühl der Ostdeutschen fast aller Couleur.“ Sind das genaue Beschreibungen der Schriftstellerin Daniela Dahn, oder formulieren hier Journalisten aus dem Westen – alle Zitate stammen (zufällig?) aus westdeutschen Zeitungen – ihre Erleichterung darüber, daß es endlich eine Autorin gibt, die sich persönlich wehrt und die somit für den Osten spricht?

Spricht Dahn überhaupt für den Osten? Spricht sie nicht vielmehr für den Westen, der eine Autorin entdeckt, von der er annimmt, sie könne mit dem Osten identifiziert werden? Ist die heilige Johanna des Ostens somit nur eine Erfindung des ständig nach neuen Gesichtern suchenden westdeutschen Medienbetriebs?

Andererseits: Daniela Dahn hat im Osten wirklich Erfolg. Der ist nicht nur herbeigeschrieben von Blättern, die dort ohnehin kaum jemand liest. Wenn Dahn Sätze schreibt wie „In der DDR war nicht alles schlecht“ und dem Westen vorhält, alles andere als ein Paradies zu sein, dann ist das Balsam auf die Seele vieler ostdeutscher Leser. „Ich habe Ihr Buch am Wochenende in einem Zug gelesen“, sagt eine Frau bei einer Lesung in Leipzig, „am Montag danach bin ich aufrechter durch die Stadt gegangen.“

Aber warum kommt Daniela Dahn im Westen an, warum verkauft sie dort die Hälfte ihrer Bücher? Man könnte es einfach mit dem gewachsenen Interesse am Osten erklären. Dafür spräche, daß die Ideen zu ihren beiden ersten Büchern nach der Wende nicht von ihr selbst, sondern von einem westdeutschen Verlag kamen. Aber Dahn selbst sagt, daß die Mehrheit der Westdeutschen zutiefst beleidigt sei, wenn gerade Ostdeutsche, aus ihren totalitären Strukturen kommend, feststellen, daß auch sie angepaßt seien. Genau diesen Vorwurf macht die Schriftstellerin ihren Landsleuten im Westen.

Daniela Dahn hat für ihren Erfolg eine einfache Erklärung: „Auch vielen Menschen im Westen geht die Selbstgerechtigkeit ihrer tonangebenden Politiker, Feuilletonisten und Führungskräfte zu weit. Sie mißbilligen, wie die Ostdeutschen über den Tisch gezogen wurden, und erwarten, daß man sich dort selbstbewußt wehrt, ohne eigene Versäumnisse zu vergessen.“ Zur Bestätigung erzählt sie von einer Lesung in Gießen, bei der die Frauenbeauftragte der Stadt ihr ganz aufgeregt mitgeteilt habe: „Ich habe Ihr Buch mit zunehmender Schamesröte gelesen. Es ist mir fatal, Angehöriger eines Systems zu sein, das neues Unrecht für die Ostdeutschen festschreibt.“ Angesichts der täglich zu beobachtenden Verhältnisse zwischen Ost- und Westdeutschland klingt Dahns Erklärung ein bißchen zu schön, um wahr zu sein.

Daniela Dahns persönlicher Erfolg beruht vielmehr auf dem Mißerfolg anderer: Ost- und Westdeutsche reden nach wie vor aneinander vorbei. In diesem ständig scheiternden Gespräch hört man, so paradox es klingen mag, gern Stimmen, die das Scheitern erklären und der einen Seite von den Eigenheiten der anderen Seite erzählen.

Die Stimme Daniela Dahns ist besonders gut zu hören: Sie ist direkt, persönlich und so demonstrativ unausgewogen, daß sie fast naiv klingt. „Dieses Buch ist ein starkes Stück“, schreibt der Christdemokrat Norbert Lammert, Staatssekretär im Bonner Wirtschaftsministerium, in einer Rezension über „Westwärts und nicht vergessen“ im Handelsblatt. „Es gibt gewiß pflegeleichtere Beiträge zur inneren Lage der vereinten Nation als dieses Buch, aber kaum bessere oder wichtigere. Man kann viel daraus lernen.“ Und Christian von Hammerstein, Ministerialdirigent aus dem Bonner Innenministerium, formulierte in einem Brief an die Schriftstellerin: „Sie haben mein Denken über die deutsche Einigung stark beeinflußt.“ Ist Daniela Dahn eine Aufklärerin?

Jeanne d'Arc, Stimme des Ostens, eine Frau, sich vor nichts und niemandem fürchtet – für Daniela Dahn haben diese Charakterisierungen nichts mit ihr zu tun. Und fast scheint es, als müßte sich die kleine, schmächtige Frau auch körperlich gegen die Last der Erwartung wehren. „Ich verteidige nur die Wahrheit“, sagt sie, „oder bescheidener: meine Wahrheit.“

Daniela Dahn ist ein Kind der DDR, geboren 1949. Sie wuchs in einem intellektuell geprägten Elternhaus auf. Ihr Vater war ein prominenter Wirtschaftsjournalist, die Mutter Kostümbildnerin und Malerin. Nach dem Abitur hat sie in Leipzig Journalistik studiert, danach beim Fernsehen der DDR gearbeitet. In dieser Zeit erlebt sie, wie viele andere ihres Alters, die Hoffnungen, die sich mit Honeckers Machtantritt Anfang der siebziger Jahre verbinden; sie erlebt aber auch die schnelle Ernüchterung über den DDR-Staats- und Parteichef.

Eine politische Jugendsendung, die sie entwickelt hatte, wurde nach fünf Folgen wieder eingestellt. 1981 kündigte sie ihren Job beim Fernsehen. Sie hatte das Gefühl, nicht mehr genug Eigenes und Kritisches in ihre Arbeit einbringen zu können. Sie wurde freie Schriftstellerin und veröffentlichte in der DDR zwei Bücher mit Kurzprosa und Reportagen.

Daniela Dahn will keine Rollen spielen. Sie beharrt sogar darauf, lediglich für sich zu schreiben und nicht für andere: „Ich beschreibe nur mein eigenes Lebensgefühl.“ Doch je größer ihr Erfolg, je häufiger sie eingeladen wird, je öfter sie öffentlich auftritt, desto weniger kann sie sich der ihr zugeschriebenen Rolle entziehen. Ob Gastdozenturen in den USA oder in England, ob Diskussionen mit Günter Gaus in Berlin oder mit Brigitte Sauzay in Paris, ob das Kulturforum der PDS oder die Friedrich- Ebert-Stiftung der SPD, ob der Willy- Brandt-Kreis mit Günter Grass und Egon Bahr oder der Beraterjob beim renommierten amerikanischen Aspen-Institut mit Gräfin Dönhoff und Theo Sommer, ob Erstunterzeichnnung der „Erfurter Erklärung“ oder ein Essay in der Woche – fast überall wird sie, ob sie will oder nicht, nicht nur als die Schriftstellerin Daniela Dahn eingeladen, sondern auch als Vertreterin des zornigen Ostens. Ehe man sich versieht, wird aus dem Klischee Wirklichkeit.

Und schon nimmt man Daniela Dahn nicht mehr ab, daß sie sich nicht als heilige Johanna stilisiert. Plötzlich wirkt das Dementi ihrer Rolle wie eine besonders subtile Form, genau diese Rolle zu spielen. Je lauter sie einklagt, nur für sich und niemanden sonst zu stehen, desto deutlicher erscheint sie als Stimme des Ostens, genauer gesagt: als Stimme eines ganz bestimmten Ostens. Dahn ist eine typische Vertreterin der „Zwischengeneration“. Deren DDR war nicht mehr so tragisch und pathetisch wie die ihrer Eltern und noch nicht so ironisch oder zynisch wie die der Jugend der achtziger Jahre. Keine DDR-Generation ist wie diese für Nostalgie begabt. Wird ihr Land angegriffen, verteidigt sie gleich ihr ganzes Leben.

Daniela Dahn wehrt sich gegen den Vorwurf. „Soll ich eine Sache, die ich für wichtig halte, einfach fallenlassen, nur um ja nicht einer Rolle gerecht zu werden, die andere für mich vorgesehen haben?“ Sie ist davon überzeugt, daß sie sich nicht vereinnahmen läßt. Sie mache gern überall mit, höre auf vielen Seiten zu, sei neugierig und bereit zu lernen. „Ich bin eine Suchende“, sagt sie über sich selbst, „eine vagabundierende Linke.“

Egon Bahr, der große Stücke auf Daniela Dahn hält, verteidigt ihr Engagement. „Wo auch immer sie ist, mit wem immer sie diskutiert – das kann nur gut sein. Der Westen hat doch keine Ahnung, was in Ostdeutschland los ist. Da kann es ihm nicht schaden, eine Stimme des Ostens zu hören.“ Aber was, wenn der Protest aus dem Osten mittlerweile als Folklore gebucht wird, als Unterhaltung für ein übersättigtes Publikum? „Ihre Provokationen waren ja wieder sehr gut“, sagt der Kulturattaché der Deutschen Botschaft in Paris nach einer Veranstaltung zu Daniela Dahn. „Kommen Sie wieder, einmal im Jahr brauchen wir Sie hier.“

Daniela Dahns Erfolg ist auch damit zu erklären, daß sie persönlich nicht angreifbar ist. Leute, die sie kennen, beschreiben sie als geradlinig, ehrlich und unerschrocken. „Ich war immer aufmüpfig“, sagt sie selbstbewußt. Das hat ihr das Leben in der DDR ebensowenig leichtgemacht wie heute. Daniela Dahn behauptet aber, daß sie sich diesen Weg nicht ausgesucht hat. Ihr Mut zur Einmischung sei vielmehr „eine von meinen Wünschen nur bedingt abhängige Charaktereigenschaft“.

Nun war Daniela Dahn in der DDR beileibe keine Widerstandskämpferin, das behauptet sie auch nicht. Aber sie verweist darauf, daß es seit ihrer Schulzeit immer wieder „Episoden von Zivilcourage“ gab, wie sie es nennt. In entscheidenden Situationen habe sie den Mund aufgemacht. Protestierte 1976 mit zitternder Stimme als einzige von 120 SED-Genossen auf einer Parteiversammlung beim Fernsehen gegen die Ausbürgerung von Biermann; sprach sich Mitte der achtziger Jahre auf dem Schriftstellerkongreß öffentlich gegen die Zensur in der DDR aus; schrieb 1987 ein kritisches Buch über Prenzlauer Berg, das in der DDR, aber auch im Westen (“Glasnost am Prenzlauer Berg“) Aufsehen erregte; gründete im Herbst 1989, noch immer Mitglied der SED, die Bürgerbewegung „Demokratischer Aufbruch“ mit; und arbeitete 1990 in einer Untersuchungskommission, die Übergriffe der Stasi im Herbst 1989 aufdeckte.

Diese Episoden erzählt Daniela Dahn nicht, um Eindruck zu schinden, so ist sie nicht gestrickt. Sie will nur deutlich machen, warum sie so gereizt reagiert, wenn ihr Westdeutsche dauernd erklären wollen, in welcher finsteren Diktatur sie vierzig Jahre lang gelebt habe und daß sie doch froh sein könne, endlich im Reich der Freiheit angekommen zu sein. Sie besteht nur darauf, nicht froh sein zu müssen: „Man soll uns nicht pausenlos Lobeshymnen auf diese weitgehend pervertierte Spielart von Demokratie abverlangen.“

Manchmal steht Daniela Dahn sich selbst im Weg, und zwar dann, wenn sie glaubt, auf verlorenem Posten zu sein und sie ihrem Verstand einfach gehorchen möchte. Im Berliner Schloß Bellevue gab es so einen Moment, erzählt sie: „Da sitzen die ganzen Koryphäen vor dir, Weizsäcker, Herzog, Dahrendorf, Teltschik, dreißig Leute, alle aus dem Westen, und fast alle erzählen dir, der einzigen aus dem Osten, daß du unrecht hast. Da wollte ich resignieren. Gegen diese Übermacht kommst du nie an, dachte ich.“

Aber dann habe sich ihr schlechtes Gewissen, ihre innere Stimme, gemeldet: Misch dich ein, es ist sonst keiner hier, der das für dich tun kann.

Das hätte auch Jeanne d'Arc nicht besser sagen können.

Jens König, 34 Jahre, geboren in Berlin/Hauptstadt der DDR, leitet seit 1996 das Inlandsressort der taz