■ Tusch für Tomayer
: 60? Kein Alter!

Es muß zehn Jahre her sein, da ich mein erstes konkret-Heft an einem Tübinger Kiosk erwarb. Neugierig geworden war ich durch den seltsam forschen Aufmacher „Musenficker Kroetz“ (o.s.ä.). Später avancierte ich zum Abonnenten; einerseits wegen der Texte von Gremliza, Schneider et al, andererseits – und schon war ich rettungslos verloren – wegen einer Rubrik, die den Titel führte: „Tomayers ehrliches Tagebuch“. Und bis heute tapfer führt. Was ich da lesen durfte, rührte an; und offenbarte zugleich – ich war ein so sich nennender Student der Germanistik, und der Jargon regierte mich – rundherum unbekannte formale Horizonte der Gedichtekunst. (Und auch der schweifend-schwingenden Prosarede).

Ich hatte wenig Schimmer, was taugt und was nicht. Man las Böll, Gryphius, den elend' Benn, Brecht passierte und Horvath und gar, o Graus, Botho Strauß. Über den Umweg des Mistvertreibers Kiosk jedoch stand mir peu à peu klarer vor Augen, daß man Boris Becker loben, Konstantin Wecker ermuntern und der Gefängnisinsassenmutter Mut machen kann, ohne je den Pfad der Artistik zu verlassen.

Wenn noch eine Literaturwissenschaft existiert, nimmt sie sich Tomayers an. Und wenn es noch Leser gibt, lesen und hören sie Tomayer. Kritik und Herzensbildung vereinen sich bei ihm wie bei den allerwenigsten behutsam und harsch, elegisch und fordernd. Wer etwa angesichts des Poems „So nicht, Katze!“ nicht vergeht, dem hilft auch kein Parteibuch mehr.

Als ich Herrn Tomayer alias Thormaier obendrein im Vorabendprogramm die von ihm zum Zerreißen schön und endreimgestützt verteidigten öffentlich-rechtlichen Anstalten und deren Tierarzt- und Kriminalserien durch rasant selbstfrisierte Dialoge veredeln sah, war's abermals geschehen. Der reparierte am Straßenrand das Rad und gab en passant den Fusseln der Branche Bescheid.

„Der Augsburger“, wie er sagt, gehöre wohl mitunter wieder zur Kenntnis genommen. Ich bin mir sicher: Eines der liebsten Brecht-Gedichte ist dem Tomayer „Der Radwechsel“. Zu meinen zeitlosen Favoriten zählen, ich darf's gestehen, Tomayers gesammelte Werke. Manches von dem, was man – leider – vergißt, dürfen wir via die allzu schmale Werkschau „Tomayers ehrliches Tagebuch 1996–1998“ (Hamburg 1996) repetieren. Daselbst, z.B. in seinem Radreisebericht, stehen Strecken von anheimelnder Güte, denn – hier spricht Tomayer wahr wie in Fragen des Kampfes der Klassen und um Gerechtigkeit – es gibt „nix Ermunterndes denn eine Kanonenöferlhitzn und nix Verläßlicheres als wie eine von der Geographie garantierte Steigung von Hamburg nahe NormalNull auf Ammersee 550 Meter drüber.“

Tomayer? Ein Humanist. Wär's heute angesichts derer, die, ohne je eine erinnernswerte Zeile verfertigt zu haben, stets zur Stelle sind, ihren Publicitywert zu steigern, kein Schimpfwort, ich maßte mir an, ihm diesen Ehrentitel zu verleihen. Dabei ist Tomayer zu bescheiden, um nur in die Gefahr einer kleinen Preisvergabe zu geraten. Lieber trinkt er drei bis sechs Pils unterm Laubwalddach bei Wildenroth.

60 wird er morgen. 60? Kein Alter! Jetzt fängt – hau inn' Sack – das Leben an! Und die Dichtung. Verschenke weiter Verse! Und in gemäßigt akademischer Gepflogenheit laß mich Dir wünschen: Tock, tock, tock, all around the clock. Jürgen Roth