■ Rot-Grün an der Macht. Joschka Fischer ist Außenminister – und das ist komischer als die Beatles bei der Queen im Buckingham-Palast
: Keine Angst vor dem Staat

Seit der Wahl ist alles anders. Wir können nicht mehr bockig in der Ecke stehen und sagen: Hat ja doch keinen Zweck! Denn wir haben gesiegt. Joschka Fischer ist Außenminister! – drastischer und komischer konnte uns der Erfolg gar nicht in den Schoß fallen. Das ist echt zum Schießen. Das ist besser als die Beatles im Buckingham- Palast. A self educated butcher-son and former taxi-driver – so wurde er dem internationalen Publikum beschrieben, das damit ja noch gar nicht weiß, wo eigentlich seine Wiege stand: auf dem Frankfurter Pflasterstrand. Er hat es geschafft. Und er wirkt in seiner Rolle smarter als seine sämtlichen Vorgänger.

Donnerwetter. Alle Felle schienen uns doch davongeschwommen, uns alten Linken, niemand wollte doch mehr etwas von uns wissen, unsere sozialistischen Phantasien schienen der Schnee von gestern zu sein; um zu überleben, haben wir uns mit dem Establishment arrangiert, und als höchstes der Gefühle gilt uns, mit einem Flachkoffer auf dem Schoß in die USA zu fliegen – und nun plötzlich dieser späte, unverhoffte Erfolg. Unsere Leute, die aussichtslosen, querulatorischen, chaotischen alten Linken, sind plötzlich ganz oben. Nicht ohne Stolz sehen wir sie, die Holz von unserem Holze sind, in der „Tagesschau“, wo sie, nicht mehr im Pullover, sondern in Anzug und Kostüm, einen tadellosen Eindruck machen.

Sie sind uns so nahe, daß es geradezu beißt, nicht dabeizusein – wenn sie da so ungezwungen vor den Kameras rumlaufen und Interviews geben – das könnte man doch genausogut selber sein... vielleicht hätte man sich doch etwas mehr engagieren sollen...

Und das dämpft unsere Begeisterung: Wenn wir sehen, daß es sich um unsere eigenen Leute handelt, die da oben agieren, stellt sich die Frage, ob sie nicht schon genauso korrupt sind wie wir selbst. Haben sie vielleicht auch nichts anderes als sozialen Aufstieg und Wohlleben im Auge? Finden sie sich nicht vielleicht einfach nur schick, wenn sie über den Atlantik und zurück düsen und dabei gefilmt werden? Haben sie sich irgend etwas von dem erhalten, was uns einmal ausgemacht hat: die Begeisterung für das Allgemeinwohl – oder sind sie genauso verdorben und abgeschlafft wie wir alle?

Die Sache wird dadurch erschwert, daß wir das Allgemeinwohl auch damals, als es uns noch beschäftigte, nicht als höheres Staatsziel aufgefaßt haben. Die linke Dogmatik kannte keine ideellen Zielsetzungen, sondern nur einen Art Peristaltik des Weltgeistes, in die man sich einzufügen hatte. Auch nach der Auflösung dieses Geschichtsvertrauens glaubte man nicht an vorgegebene Ziele, sondern nur an die Ergebnisse von Diskursen, für die es lediglich prozedurale Regeln gab.

Es ist vollkommen aus der Mode gekommen, dem Staat Ziele zu setzen. Die Neoliberalen, gegen die es anzutreten gilt, haben daran kein Interesse; aber auch unsere neue Garde hat keine Ideologie, die solche Ziele kennt. Woher soll jetzt die Fähigkeit zum Wollen und Entscheiden kommen?

Auch soweit die Grünen eigene Wurzeln haben, sind sie staatspessimistisch. Small ist beautiful war immer ihre Devise. Von zentraler Leitung erwartete man nichts und von Basisaktivität alles. Was will man jetzt da oben? Geführt von Theorien, die für Macht überhaupt keinen Sinn haben, geschult in einem Denken, das der staatlichen Einflußsphäre Stück für Stück entreißen wollte, ausgerichtet auf eine Zivilgesellschaft, die ihren Lebensraum in Küchen und Wohnzimmern hatte, von Jugend auf gegen das System eingenommen und auf die Verteidigung der Lebenswelt eingestellt – wo soll da ein Bewußtsein für die Verantwortung herkommen, die die Macht mit sich bringt? Die Macht an sich ist böse, dachte man bis gestern, und heute soll man sie plötzlich handhaben.

Gott sei Dank sind die Spielräume minimal. Wie man hört, werden sie, je weiter man aufsteigt, immer kleiner. Immer mehr Rücksichten sind zu nehmen, und die hohen Konzessionen, die in den Koalitionsvereinbarungen gemacht wurden, waren nicht nur der Preis für den Einstieg in die Macht. Sie gaben bereits einen Eindruck von den kleinen Brötchen, die da oben gebacken werden.

Um so mehr sind wir gefragt, der Teil des Wahlvolks, auf dessen Schultern die flotte neue Garde steht. Sprechen wir nicht von Zivilgesellschaft, sondern von öffentlicher Meinung: Auf uns kommt es jetzt an. So grau uns alten Linken die Locken auch geworden sind – wir müssen uns umstellen. Wir sind jetzt erst wirklich erwachsen geworden. Mit der viel verspotteten Birne haben wir unseren dicken großen Papa verloren; wir sind jetzt die entscheidende Generation.

Das ist nicht leicht für uns. Unser erster Lebensschwung – der unserer Jugend – hat ins Nichts geführt. Der Kapitalismus hat gesiegt, und unser Gegenkonzept hat sich als Schrott erwiesen. Wir sind resigniert und können die neue, chancenreiche Situation kaum mehr erfassen. Die soziale und ökologische Ausrichtung ist jetzt, wo sie sich als politischer Machtfaktor erweist, schon um die Ecke. Die unteren Schichten interessieren uns nicht mehr, und unsere naturfrohe Phase hat ihren Höhepunkt auch schon lange hinter sich. Wir sind über die Klimax hinaus und im Abschwung. Die Jüngeren wiederum haben zwar ganz brav Rot-Grün gewählt, sind aber politisch abstinent und wachsen nicht stützend nach. Wir sind eine isolierte Generation, der sowohl der väterliche Segen von oben als auch die Nachfolge von unten fehlt. Wie schwach sind diese Schultern!

Wir müssen aus unserer Resignation erwachen. Wir dürfen uns nicht mehr genieren, staatstragend zu sein, sondern müssen staatliche Tätigkeit als Möglichkeit erkennen, die Verhältnisse zum Besseren zu wenden. Daß es das gibt, das Bessere und das Schlechtere, müssen wir gegen alle postmoderne Aufweichung begreifen lernen. Wir dürfen nicht mehr kokett nach oben gucken (Na, ihr Alten, wie findet ihr uns?), sondern müssen uns selbst als die nunmehr Alten erfassen und Verantwortung übernehmen für die Jungen. Wir müssen ihnen das drückende Gefühl nehmen, überflüssig zu sein, und eine Gesellschaft schaffen, in der jede Hand gebraucht wird.

Es hängt von uns ab, ob die Neuwahl eine Epochenwende wird – die Ablösung des Ultraliberalismus durch einen vom Staat gelenkten New Deal – oder ob sie in ein gemeinsames Clinton-/Blair-/ Schröder-Syndrom führt: halblinke, taktisch orientierte, gutaussehende Yuppies, die weder einen Bezug zu den Massen noch zur Natur haben und nichts Vernünftiges auf die Beine stellen.

Sibylle Tönnies