Pinochet nach Spanien!

Die Justiz erklärt sich zuständig für Chiles Ex-Diktator. Nun ist der Weg frei für einen Auslieferungsantrag  ■ Aus Madrid Josef Manola

Nach einem Urteil des Sondergerichtshofs in Madrid sind Spaniens Richter berechtigt, die Verbrechen der argentinischen und chilenischen Militärdiktaturen zu verfolgen. Dies betrifft vor allem den chilenischen Ex-Diktator Augusto Pinochet, der kürzlich in London verhaftet wurde.

Nach Anhörung der beteiligten Parteien und sechsstündiger Beratung wies ein aus elf Richtern bestehender Senat gestern nachmittag den Einspruch der Staatsanwaltschaft gegen mehrere am Sondergericht anhängige Verfahren gegen chilenische und argentinische Militärs ab. Hunderte Demonstranten, die vor dem Gerichtsgebäude mehrere Stunden lang ausgeharrt hatten, empfingen den Urteilsspruch mit Applaus. In Sprechchören wurde eine Auslieferung Pinochets gefordert.

Die ungewöhnliche Sitzung der elf Richter der Audiencia Nacional wurde als Reaktion auf das große Interesse erstmals seit der Gründung dieses Sondergerichts zur Verfolgung von Terrorismus, Drogenhandel und Organisiertem Verbrechen öffentlich abgehalten. Aufgrund des zeitlich begrenzten Rahmens mußten Befürworter und Gegner einer Strafverfolgung durch die spanische Justiz ihre Beweisführung in einem Verhandlungsmarathon verdichten.

„Wir wollen“, sagte der Anwalt Carlos Sepoy während der Verhandlung, „daß sich die Massenmörder verfolgt und umzingelt fühlen.“ Sepoy, der die Vereinigung für Menschenrechte in Argentinien vertritt, erinnerte unter anderem an „30.000 Verschwundene“ und „Tausende Menschen, die von Flugzeugen aus ins Meer geworfen wurden“.

Schon in der Nacht vor der richterlichen Anhörung am Donnerstag hatten sich über tausend Aktivisten, darunter Angehörige von Opfern, bei Kerzenschein zu einer Gedenkkundgebung in unmittelbarer Nähe des Gerichtsgebäudes versammelt. Einige der Teilnehmer erfuhren erst hier von der Entscheidung eines Londoner Gerichts, Pinochet Immunität zuzugestehen: „Eine herbe Enttäuschung“, kommentierte ein Mitglied der Menschenrechtsorganisation „Künstler und Intellektuelle für die eingeborenen Völker Lateinamerikas“, „aber sie wird uns nicht daran hindern, für Gerechtigkeit und gegen das Vergessen aufzutreten.“

Ein Vertreter der Staatsanwaltschaft, die die Zuständigkeit von Untersuchungsrichter Baltasar Garzón seit der Aufnahme des Verfahrens in Frage stellt, nannte mehrere Gründe, die eine Strafverfolgung von Verbrechen der chilenischen und argentinischen Militärdiktatoren, darunter auch Pinochet, unmöglich machten: Die Opfer der Militärdiktaturen seien, so Staatsanwalt Ignacio Peláez, „nicht aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Volks- oder Religionsgemeinschaft verfolgt worden, sondern wegen ihrer politischen Überzeugung“. Die Delikte Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die nach einer 1995 in Kraft getretenen Strafrechtsreform auch über die Grenzen Spaniens hinaus international geahndet werden können und nicht verjähren, seien nach Ansicht der Staatsanwaltschaft nicht gegeben.

Untersuchungsrichter Garzón ermittelt gegen Pinochet und andere Militärs wegen der „Gründung einer bewaffneten Organisation“, der sogenannten Aktion Condor, die in mehreren Ländern Lateinamerikas Regimegegner verfolgte. Dazu habe sich der damalige Diktator Pinochet – so die Anklageschrift Garzóns – „der militärischen Strukturen und seiner Macht“ bedient, um ein „Terrorregime aufzubauen, das Menschen entführt, gefoltert, ermordet hat“. 94 dokumentierte Fälle füllen Garzóns Ermittlungsakten.

Als Antwort auf die Argumente der Staatsanwaltschaft entgegnete der Anwalt Joan Garcés, dessen Anzeige bei der Audiencia Nacional zum spanischen Haftbefehl gegen Augusto Pinochet geführt hat, zehn Prozent der chilenischen Bevölkerung seien Opfer von Verfolgungen und Mißhandlungen geworden. „Es gab einen klaren Willen, einen Teil der chilenischen Bevölkerung zu zerstören“, folgerte Garcés, „weshalb man sehr wohl von Völkermord sprechen kann.“

Juristen in Madrid bezweifelten, ob der Madrider Spruch einen Einfluß auf die ausstehende Entscheidung des Obersten Gerichts in London über Pinochets Immunität haben wird. Als „großen moralischen Sieg, dessen Folgen noch nicht abzuschätzen sind“, feierten Exilchilenen und Angehörige von Opfern der Militärdiktatur die Entscheidung.