Profilneurotiker ohne Perspektive

Kein Aufsichtsrat, kein Geld, keine neue Arena, aber ein neuer Name für das alte Stadion: Auf der Jahreshauptversammlung des FC St. Pauli kollabierte der Verein  ■ Von Eberhard Spohd

Die Worte des Präsidenten waren fast visionär: „In dieser schwierigen Zeit sind Leute gefragt“, leitete Heinz Weisener seine Rede auf der Mitgliederversammlung des FC St. Pauli am Freitag abend in der Handwerkskammer ein, „die bereit sind, Opfer zu bringen. Profilneurotiker sind leichter zu finden.“ Das größte Opfer, zumindest in finanzieller Hinsicht, bringt der Architekt selbst. Er wird auch in dieser Saison wieder Millionen in den Verein stecken, um dessen Überleben zu ermöglichen. Denn „die fehlende Liquidität“, die Weisener konstatieren mußte, „macht eigentlich den Weg zum Konkursrichter notwendig“.

Einzig der Neubau des Stadions könne den Verein noch retten. Sollte die neue Arena gebaut werden, deren geschätzte Kosten sich inzwischen auf 85 Millionen Mark erhöht haben, ergäbe dies Mehreinnahmen von 8,5 Millionen Mark pro Jahr. Die Rettung für den Verein. Inzwischen ist aber davon auszugehen, daß mit dem Bau nicht vor der Sommerpause 1999 begonnen werden kann. Viele Mitglieder bezweifeln, daß das neue Stadion, dessen Finanzierung ohnehin auf wackeligen Füßen steht, jemals gebaut wird.

Die Anwesenden trauten ihren Ohren nicht, als der kommissarische Vizepräsident und Schatzmeister, Robert Ahrens die katastrophale Lage durch Zahlen verdeutlichte. Im März übernahm er den Posten von Horst Niewicki und rechnete zum ersten Mal in dieser Spielzeit durch, wie es wirklich um den FC St. Pauli bestellt ist. Das Ergebnis war erschreckend: „Im April ergab sich ein geschätzter Verlust von 3,5 Millionen Mark für die Saison 97/98.“ Im Juni war die Summe gar auf 3,8 Millionen angewachsen. Durch Rücklagen konnte das Minus auf 273.000 Mark gedrückt werden.

Daraufhin ließ Ahrens die erste Bombe des Abends platzen. Auch für die laufende Saison sei ein operativer Verlust von 2,5 bis 3,5 Millionen Mark zu erwarten. Und schlimmer noch: Das unabhängige Wirtschaftsprüfungsinstitut TRHS konstatierte, daß der Verein die Überschuldung nicht aus eigener Kraft abbauen kann. Anders gesagt: Der FC St. Pauli ist pleite. Darum erklärte Ahrens: „Ich sehe mich gezwungen, von der Kandidatur als Vizepräsident zurückzutreten.“

Damit trat der Mann ab, auf den so viele St. Paulianer ihre Hoffnungen gesetzt hatten. Als Gründe für seinen Schritt gab er an, daß er persönlich für den Verlust haftbar gemacht werden könne. Zum anderen befürchtet der selbständige Steuerberater und Wirtschaftsprüfer standesrechtliche Konsequenzen, wenn er ein kurz vor dem Ruin stehendes Unternehmen mit übernehmen würde. „Das Verhältnis zu Heinz Weisener“, betonte er, „war nicht der Grund für meinen Rückzug.“ Ein Verhältnis, das in den vergangenen Wochen immer schlechter wurde. Denn, so wurde unter den Anhängern gemutmaßt, Heinz Weisener wußte über den wahren Kontostand seines Vereins Bescheid, ließ jedoch Horst Niewicki viel zu lange gewähren und unterrichtete seinen Stellvertreter Ahrens nicht rechtzeitig vom Desaster in der Clubkasse. Wie sonst hätte der ehemalige Schatzmeister, der unter der Voraussetzung angetreten war, daß es unter seiner Ägide kein Minus geben würde, solange verschleiern können, daß der Konkurs kaum noch abzuwenden sei.

Selbst der Aufsichtsrat wurde von der Entwicklung überrascht. „Horst Niewicki hat uns im Zwei-Monats-Rhythmus ausgeglichene Ergebnisse präsentiert“, erklärte der Vorsitzende Hans Apel. Warum das Kontrollgremium aber diese Berichte nie in Frage gestellt und überprüft hat, konnte auch Apel den Mitgliedern nicht erklären. Gekonnt wurde jedoch die Verantwortung abgegeben: „Ich beantrage“, so Apel weiter, „Herrn Niewicki nicht zu entlasten.“

Kurz darauf erklärten er und drei weitere Mitglieder des Kontrollgremiums ihre Rücktritte. Nicht, weil sie mangelnde Vorsicht walten ließen, sondern weil ihnen die Entscheidung über die Umbenennung des Stadions kurz vor Mitternacht nicht paßte. Der Mitgliederversammlung – dem obersten beschließenden Gremium des Vereins – warf Apel am Sonntag in seiner nachgereichten schriftlichen Demissionserklärung vor, sie verletze „durch ihre Stimmabgabe wesentliche rechtsstaatliche Grundsätze“.

So blieb den St. PaulianerInnen am Ende des Abends nur festzustellen, daß Holger Scharf von der Arbeitsgemeinschaft interessierter Mitglieder in den nun nur noch dreiköpfigen Aufsichtsrat und Wolfgang Helbing von der Berenberg Bank als Vizepräsident gewählt wurden. Und daß der Verein nur noch ein uneiniger Trümmerhaufen ohne Perspektive ist. „Bleibt nicht mehr viel zu sagen“, beendete Heinz Weisener den grausamen Abend, „ich schließe hiermit die Versammlung.“ Und vielleicht auch das Kapitel FC St. Pauli.