Bloß ein Stück Schnur an einer toten Hand

Mehr Bodenhaftung, weniger Massenkunsthaltung: Die Hamburger Ausstellung „Emotion“ mit britischer und amerikanischer Kunst aus der Sammlung Goetz ist eine Korrektur zum Budenzauber von Charles Saatchi und dessen „Sensation“-Spektakel in Berlin  ■ Von Harald Fricke

Der Abstieg war vorauszusehen. Nachdem zur Londoner Eröffnung von „Sensation“ Popstars gemeinsam mit Ministern am Büfett in der Royal Academy of Arts herumstanden, hat Young British Art extrem an Image eingebüßt. Damien Hirst richtet mittlerweile Kneipen ein, und Tracy Emin macht auf Leuchtreklamen im Flughafen Heathrow Werbung für Gin. Je mehr die neue britische Kunst zum bloßen Marktfaktor gerät, desto geringer ist der Distinktionsgewinn für ein Publikum, das in der Kaputtheit der Arbeiten ja einen Spiegel der maroden Verhältnisse innerhalb der englischen Gesellschaft sehen sollte. Da mit der Blair-Regierung die Parole vom gesundenden „cool Britannia“ ausgegeben wurde, haben zwangsläufig auch die dickensartigen Verfallsmodelle – Richard Billinghams Fotos seines Säufervaters oder Marc Quinns geschundene Selbstporträts – als Leitbilder ausgedient. Das Elend wird zum edlen Dekor.

Charles Saatchi, der Mentor und Hauptsammler der Bewegung, hat prompt reagiert: Am 8. Dezember werden bei Christie's rund 130 Werke aus seiner Kollektion versteigert, darunter der von Jake und Dinos Chapman als „Übermensch“ in Kunststoff abgegossene Stephen Hawking im Rollstuhl. Das Auktionshaus rechnet zwar mit einem Umsatz von gut einer Million Pfund, doch schon bei der letzten Versteigerung Anfang Oktober ließen sich einige Pillenvitrinen von Damien Hirst nicht mehr verkaufen. Für Saatchi ist die Auktion ohnehin bloß eine Prestigeangelegenheit, der Erlös soll für eine Reihe von Künstlerstipendien und Projekthilfen gespendet werden. Offenbar will sich der Sammler damit seinen eigenen künstlerischen Nachwuchs heranziehen.

Der Sammler als Großwildjäger

Tatsächlich wirkt britische Kunst durch die Überpräsenz ihres vordersten Sammlers wie Trophäen einer Großwildjagd. Die exklusive „Saatchi-Medien-Kunst-Star- Kontroverse-Knüller-Allianz“, wie Carl Freedman den Hype um Hirst und Co. bezeichnet hat, funktioniert allerdings nicht mehr so reibungslos wie vor zwei, drei Jahren. Ein Großteil der KünstlerInnen, an deren Karriere Saatchi wesentlich mitgestrickt hat, fühlt sich mit der einsetzenden Flaute im Stich gelassen – immerhin lehnt der Sammler jeden privaten Umgang mit seinen Schützlingen ab. Geschäft ist Geschäft, und eine neue Generation wartet schon. Weil aber die öffentliche Wahrnehmung von Kunst sich ein wenig langsamer vollzieht als irgendwelche Spekulationen auf dem Markt, ergeben sich merkwürdige Verschiebungen: Während man im Hamburger Bahnhof in Berlin den Besuchern noch zerlegte Kühe als „Sensation“ präsentiert, kehrt in London nicht anders als in New York die Malerei wieder ein. Damit dürfte sich auch die alltagsorientierte und trashverliebte Young British Art am Ende in die Akademien zurückziehen.

Gegenüber solchen Verschleißerscheinungen im erweiterten Britpop hat die Münchner Sammlerin Ingvild Goetz vorgebeugt. Anders als bei Saatchi beruht ihr Engagement nicht allein auf Kalkül – auch wenn die Art der Vernetzheit im Kunstbetrieb ähnlich ist. Wie ihr Londoner Kollege hat sich die ehemalige Galeristin als Sammlerin eigens ein Museum einrichten lassen, das 1993 von den Schweizer Architekten Herzog & de Meuron gebaut wurde. Zudem operiert Goetz, was die Ausstellungspraxis betrifft, ebenso zeigefreudig wie Saatchi derzeit mit „Sensation“. Zum Jahresende wird in Wien eine umfangreiche Retrospektive zur Arte povera aus dem Besitz der Otto-Versand-Erbin vorbereitet, seit letztem Samstag ist „Emotion“ mit Arbeiten junger britischer und amerikanischer Kunst in den Hamburger Deichtorhallen zu sehen. Die insgesamt 16 KünstlerInnen sind eine bescheidene Auswahl, wie Deichtorhallen-Direktor Zdenek Felix zur Eröffnung erklärte: „Mit allen vorhandenen Arbeiten hätten wir den Portikus in Frankfurt gleich 30 Mal füllen können.“ Zumindest in Sachen Sammelwut sind sich Goetz und Saatchi recht nahe.

Dort die Monstren der Massenkunsthaltung, hier die feinere Lesart des Gefühls – obwohl der Titel für Hamburg mehr oder minder plump nach einer Verknüpfung der Themen sucht, ist die Kluft zwischen „Sensation“ und „Emotion“ beträchtlich. In Berlin wird ein grob zusammengeklotztes Warensortiment präsentiert, das die parallelen Entwicklungen der KünstlerInnen mit Gleichförmigkeit verwechselt; in Hamburg hat man deshalb für jede einzelne Position abgetrennte Kabinette eingerichtet, um den jeweils individuellen Zugang hervorzuheben. Plötzlich bekommt selbst Tracy Emins Abrechnung mit der miesen Teenagerzeit eine intime Würde, die ihr als Schlampe vom Dienst sonst nirgends zugestanden wird.

Anders als Goetz geht es dem Sammler Saatchi um Überwältigung: Sämtliche Objekte im Hamburger Bahnhof sind ein Beleg für die Macht der Darstellung, die allein im Schock funktioniert. Das ist nach einem halben Dutzend Tierkadaver und kunsthistorisch verbrämten Metzeleien schon reichlich langweilig. Die Sammlung Goetz baut statt dessen auf genaue Abstufungen: So sieht man neben den üblichen Matratzenabgüssen von Rachel Whiteread die reportagehafte Fotostrecke „Demolished“ über die Sprengung eines Wohnblocks am Londoner Stadtrand. Aus diesem Interesse an den Eingriffen in urbane Räume erschließt sich wiederum ihr komplett abgeformtes „House“, für das sie 1993 den Turner-Prize erhalten hat.

Vor allem bricht „Emotion“ durch die Gegenüberstellung USA/UK mit der nationalen Identifizierbarkeit der Young British Art. Das bislang stets fest geschnürte „Britpack“-Paket zerfällt in lauter eigenwillige Persönlichkeitsbilder: Willie Dohertys Studie zu Krieg und Migration in der Dia- Installation „They're all the same“ gehört eher in die Tradition der Konzeptkunst eines Hans Haacke, und Mona Hatouns auf einen Teller projizierte Kamerafahrt durch den Magen setzt Wiener Aktionismus mit den Mitteln des Videos fort. Zugleich erkennt man in der Kombination, daß die britischen KünstlerInnen der neunziger Jahre ihre Haltung überwiegend in der Auseinandersetzung mit amerikanischen Vorbildern gefunden haben. Auf einmal führt eine klare Linie von Mike Kelleys recycelten Plüschtierarrangements zu den Schatullen, auf die Emin ihre Biographie aus Altkleidern gestickt hat. Und Angela Bullochs „Beach Synth“ als Kommentar zum Freizeit-Thrill in Form eines akustischen Bombenteppichs gewinnt auch dadurch an ironischer Distanz, daß er neben den gemalten Kunstverweiswitzen von Richard Prince plaziert ist.

Andererseits sind die ältere Zitate-Schule eines Prince oder Louise Lawlers fotografische Kunstmarktanalysen ganz explizit an theoretische Diskurse gebunden, mit denen britische KünstlerInnen nicht so viel im Sinn haben. Cady Nolands Kontext-Arbeiten zur US-Geschichte als Medieninszenierung nehmen Zeichen und Rhetorik so minutiös auseinander, daß man zum Verständnis ihrer Skulpturen einen Handapparat benötigt. Bei den Briten hingegen findet jeder Konflikt ebenso unmittelbar wie konkret im Material statt. Das hat nach all den Jahren der Dekonstruktion einige Vorteile: Die Exil- Iranerin Mona Hatoum nimmt sich mit dem sargartigen „Divan Bed“ aus Tränenstahl ziemlich handfest die Unbillen des Fundamentalismus vor, während Andrea Zittels asketische Schlafsäcke gleich nebenan nur flüchtig andeuten, wie Globalisierung und Sozial-Design zusammenhängen. Eher schon gibt es da Parallelen zu Abigail Lanes derben Holzschuhen, die sie für Frau Goetz entworfen hat. Doch auch hier wird die neue Kuscheligkeit der Mode konterkariert – das Fußbett aus Gummi ist wie ein Stempelkissen unter der Schuhsohle festgetackert.

Kitschfetische und Prothesenkunst

Am weitesten driften die Positionen aber im Umgang mit Film auseinander. Matthew Barney braucht gleich drei Räume, um seine diversen „Cremaster“-Verwandlungen mit den dazugehörigen Accessoires vorzuführen. Dabei sind die aus Prothesenkunststoff geformten Brustpanzer und Plateauschuhe oder die mit Vaseline bestrichenen Filmstills weniger Performance-Relikte als Kitschfetische, die den kreativen Aufwand dokumentieren, mit dem sich Barney seine surreale Welt gezimmert hat.

Umgekehrt benutzt der Schotte Dougals Gordon bloß ein Stück Schnur als Special Effect für seine Horror-Videos „Dead Right“ und „Left Dead“. Nachdem er sich minutenlang das Blut in der Hand abgeschnürt hat, sind die Finger zu unförmigen, lilafarbenen Tentakeln angeschwollen. Totenstarr wird bei Gordon der Körper zum fremden Objekt, das in seiner Agonie auch zur morbiden Ansammlung von „Sensation“ passen könnte. Die präzise Schlichtheit jedoch, mit der Gordon diese Wirkung erzielt, hätte Saatchis zwischen Freakshow und Rummelplatz angesiedeltes Bild von der Kunst arg in Verlegenheit gebracht. Eine Lösung für das Dilemma der Young British Art, die seit „Sensation“ auf den künstlerischen Ausverkauf zusteuert, ist durch die Sammlung Goetz nicht zu erwarten. Aber immerhin eine Alternative.

„Emotion“, bis 17. 1. 1999, Deichtorhallen Hamburg. Der Katalog, Cantz Verlag, kostet 39 DM.

„Sensation“, bis 17. 1. 1999, Hamburger Bahnhof, Berlin