Schweden erleben das Ende des goldenen Zeitalters

■ Das neue Rentensystem verabschiedet sich vom alleinverantwortlichen Staat: Erstmals müssen ArbeitnehmerInnen zahlen. Nur wenn sie lebenslang arbeiten, reicht es im Alter

Stockholm (taz) – „Genial, historisch, der Welt erstes autonomes und bestes Rentensystem.“ Schwedens Sozialministerin Maj- Inger Klingwall sparte nicht mit Superlativen, als im Juni der alte Reichstag noch schnell vor den Wahlen die neue Rentengesetzgebung verabschiedete. Nach vierjährigem Gefeilsche hatte sich eine „Große Koalition“ der Parlamentsparteien auf die Prinzipien für ein neues Pensionssystem geeinigt, das ab 1999 gelten wird.

Das bisherige ATP-System („Allgemeine Zusatzpension“) war nicht mehr finanzierbar gewesen. Das, was als so „genial, historisch“ verkauft wurde, war allein die Hoffnung auf Finanzierbarkeit und verdeckte ansonsten die Tatsache, daß die guten Zeiten für Schwedens RentnerInnen vorbei sind.

Das ATP-System baute auf der Voraussetzung, daß die goldenen Wirtschaftswachstumszeiten der sechziger Jahre bis in alle Ewigkeit andauern würden – was bekanntlich eine Illusion war. Das Wachstum gestaltete sich nicht nur recht unterschiedlich, es sank sogar dramatisch und zeigte zeitweise auch noch ein Minusvorzeichen. Im Pensionssystem waren hierfür keine Sicherungen eingebaut. Mit der Folge, daß sich die Renten konjunkturunabhängig stetig gebunden an die Preissteigerungsrate erhöhten und sich die Finanzen der RentnerInnen deutlich besser entwickelten als die des durchschnittlichen Arbeitnehmerhaushalts. Das schaffte nicht nur böses Blut, sondern war nicht mehr zu finanzieren.

Mit dieser unabhängigen Rentenentwicklung ist es im kommenden Jahr zumindest für alle nach 1938 geborenen – für die zuvor geborenen gilt aus Gründen der Rechtssicherheit das alte System – vorbei. Zum einen werden die Renten in ihrer Höhe dann der allgemeinen Lohnentwicklung folgen. Läuft es für die schwedische Wirtschaft gut und sind die Gewerkschaften tüchtig, profitieren davon auch die RentnerInnen. Geht es bergab, klafft auch im Geldbeutel der Alten ein Loch. Eine Sicherung nach unten ist allerdings eingebaut: Die Inflationsrate muß immer ausgeglichen werden.

Die massivste Änderung wird es bei der Berechnung des Altersruhegelds geben. Bislang waren die besten 15 Arbeitsjahre der Maßstab. Diese Rentenberechnung kam vor allem Frauen zugute, die erst einen größeren Teil wegen der Kinder gar nicht oder nur Teilzeit gearbeitet hatten, dies aber in bezug auf die Altersversorgung durch einige Jahre mit besser bezahlter Vollzeitarbeit wieder ausgleichen konnten. Nun wird das gesammelte Einkommen im ganzen Arbeitsleben zur Grundlage gemacht. In der Praxis bedeutet dies, daß mit voller Pension nur rechnen kann, wer mindestens 40 Jahre gearbeitet hat und auch dies nur unter der Voraussetzung jährlicher Wirtschaftswachstumsraten von mindestens zwei Prozent. Wer mehrere Jahre arbeitslos war oder eine lange Ausbildung absolviert hat, ist der Verlierer.

Übergangsregelungen gibt es allerdings auch hier. Massiv trifft die Neuregelung alle Geburtsjahrgänge ab 1954. Für vorher Geborene gilt eine Mischregelung: Garantiert sind ihnen bei der Rentenberechnung alle bis 1994 im alten ATP-System angesammelten Berufsjahre und Rentenpunkte. Am ungerechtesten behandelt von der Reform fühlt sich die Generation der Vierzigjährigen. Viele – primär Frauen – hatten ihre Lebensplanung auf das alte ATP-System abgestellt und viele Jahre nur Teilzeit gearbeitet. Für sie ist es nahezu unmöglich geworden, bis zum Eintritt ins Rentenalter eine auch nur annähernd ausreichende Rente zu erreichen.

Auch bei der Finanzierung der Renten wurde in Schweden Neuland betreten. Die Grund- oder Garantiepension beträgt in diesem Jahr rund 1.300 Mark im Monat für eine alleinstehende Person. Sie soll ein Abtauchen in die Sozialhilfe vermeiden und wird weiterhin über Steuern finanziert. Mit der für ArbeitnehmerInnen kostenlosen Finanzierung der (Zusatz-)Rentenversicherung ist es dagegen vorbei. Bislang war diese allein durch Arbeitgeberbeiträge finanziert worden. Jetzt führt die Regierung ein ähnliches Mischfinanzierungssystem wie in Deutschland ein: 18,5 Prozent des Lohns – je zur Hälfte als Arbeitgeber- beziehungsweise Arbeitnehmerbeiträge – gehen an die Pensionskasse. Bei Inkrafttreten der Reform – möglicherweise aber auch bei späteren Erhöhungen des Beitragssatzes – bedeutet dies keine Zusatzbelastung für die ArbeitnehmerInnen, da dem Steuerentlastungen in etwa gleicher Höhe gegenüberstehen.

Rentenversicherungspflicht besteht für alle ArbeitnehmerInnen. Verdienen sie jährlich mehr als umgerechnet 58.000 Mark wirkt der auf den überschießenden Lohn entfallende Anteil nicht rentenerhöhend, muß aber trotzdem gezahlt werden. Die soll zu große Rentenungleichheit verhindern. Die Sozialdemokraten erkauften sich dies mit einem „kapitalistischen“ Element, das den konservativen Parteien am Herzen gelegen war: Über die Anlage eines 2,5-Prozent-Anteils des 18,5-prozentigen Rentenbeitrags kann jeder Berufstätige selbst entscheiden. Schwedische und ausländische Wertpapierfonds haben mittlerweile eine heftige und für die meisten ArbeitnehmerInnen verwirrende Werbekampagne um diese Milliarden gestartet. Die Presse kommt stetig mit Sonderbeilagen („So sparst du in den richtigen Fonds!“) heraus, die allerdings angesichts des aktuellen Auf und Nieder an den Börsen schnell veralten. Eine staatliche Aufsichtsbehörde soll verhindern, daß die PensionsparerInnen von unseriösen Fonds abgezockt werden.

Ansonsten können die SchwedInnen in mehr oder weniger risikoreichen Fonds selbst Rentenroulette spielen. Vertrauen sie auf Vater Staat, steht ein staatlicher Fonds oder für die ganz Vorsichtigen und Unentschiedenen ein Prämiensparfonds bereit. Bislang sieht es trotz aller Bemühungen der Finanzbranche so aus, als ob die Mehrzahl der eigenhändig anzulegenden Pensionsgelder in diese Fonds fließen.

„Modern und stabil“ ist das Urteil der Regierung über das neue „Jahrhundertwerk“. „Unnötig kompliziert und vom Resultat her unübersichtlich“, lautet der Einwand vieler KritikerInnen. Zumindest aber die Finanzierbarkeit scheint gesicherter zu sein, als im bisherigen System. Und Schwedens RentnerInnen haben nicht nur die beruhigende Gewißheit einer über Steuern finanzierten garantierten Mindestpension, sondern auch eines nach wie vor bis auf minimale Eigenabgaben kostenfreien staatlichen Gesundheitswesens. Reinhard Wolff