Abschied, Heimweh, Melancholie

Berlin im Tangofieber. Zehntausend passionierte Tänzer treiben von Salon zu Salon. Das Faszinierende: Argentinischer Tango bringt Körperkontakt ohne Verbindlichkeit  ■ Von Kirsten Niemann

Ein Freitagabendball in der Kreuzberger Tanzschule „Walzerlinksgestrickt“. Es ist gerade zehn Uhr, die Bar ist eher leidlich besucht, doch etliche Paare schieben sich bereits über die Tanzfläche. Ihre Oberkörper harren in Schmusestellung, Wange an Wange. Die Becken befinden sich kaum auf Tuchfühlung, während die Beine Freiheit genießen. Ein schwarzgekleidetes Pärchen in den Vierzigern demonstriert virtuose Achterdrehungen aus der Hüfte, vorwärts und rückwärts. Zwei schwule Jungs lassen engagiert ihre Hacken wirbeln. Eine langbeinige Russin in engem kurzen Kleid wagt gar kesse Tritte gegen die Schenkel ihres Tanzpartners. Erotisches Knistern. Meisterhaft und leicht schweben manche über das Parkett.

Und dann sind da auch all die anderen, die noch üben müssen und mit murmelnden Lippen den Takt mitzählen, während sie sich mit ernsthafter Miene auf ihre Füße konzentrieren. Einige tanzen, als betrieben sie Fitneß. Doch ob der DJ eine beschwingte Milonga spielt, einen behäbigen Waltz-Crusado oder den klassischen Tango im Zweivierteltakt – egal, ob meisterlich oder eher im Stolperschritt aufs Parkett gebracht – mit Hingabe tanzen sie alle. Vor allem die Männer, die sonst beim Gesellschaftstanz mit Anfassen, auf Betriebsfesten oder Hochzeiten, gern mal eine Kriegsverletzung vorschützen.

„Tango tanzen ist wie eine Sucht“, erklärt Mohammed, der eben noch mit einer steifbeinigen Anfängerin über das Parkett geschlurft ist. „Man kommt einer fremden Person nahe, ohne daß es Folgen für einen hat.“ Das gefällt dem gutaussehenden Burschen. Eine feste Partnerin hat er nicht, deshalb muß er immer wieder den Blick schweifen lassen.

Seit Anfang des Jahres übt der 35jährige Iraner nun schon. Und zwar unermüdlich: Einmal in der Woche hat er Unterricht, zwei- bis dreimal geht er zu Ballveranstaltungen in den Roten Salon, in das Fliegende Theater oder kommt eben hierher. Tango total. „Und das ist fast noch zu selten“, findet Mohammed. „Denn je mehr man lernt, desto eher fällt einem auf, was man alles noch nicht kann.“

Der argentinische Tango ist ein urbanes Phänomen. Selbst im distanziert-coolen Berlin hat er eine Passion entfacht, wie sie sonst nur für seine Geburtsstadt Buenos Aires und – seltsamerweise – auch für Tokio bekannt ist. Heute bietet nahezu jede Berliner Tanzschule, die etwas auf sich hält, Tangostunden an. Etwa 10.000 begeisterte Tänzer treiben allein durch die mittlerweile mehr als fünfzehn Berliner Ballsäle und Salons, darunter 1.500 Dauertänzer, die wie Mohammed gleich mehrmals in der Woche die Sohlen schwingen.

Angefangen hatte alles vor rund sechzehn Jahren, als die Massen noch zu Wave und Disco schwoften. Lediglich eine Handvoll Interessenten scharte sich damals um den Tanzlehrer Dietrich Lange, einen gebürtigen Uruguayer, der schon in Amsterdam und Barcelona unterrichtet hatte, bevor er Anfang der achtziger Jahre nach Berlin zog. Hier gründete Lange das Estudio Sudamerica, eine Einrichtung, die sich mit seinen 400 Eleven allein in der Tangodisziplin als Berlins größte Tanzschule für Lateinamerikanisches etabliert hat. Damals mußte der studierte Ethnologe noch Taxi fahren, um die Raummiete für ein Etablissement im abgelegenen Grunewald bezahlen zu können.

Tango war Subkultur: „Wir trainierten auf einem Dachboden in der Muskauer Straße und in irgendwelchen Berliner Zimmern“, erinnert sich der 42jährige, der mit seinem deutschen Namen und den dunkelblonden Haaren auf den ersten Blick eigentlich so gar nichts Südamerikanisches hat. Über drei Jahre mußte Lange in das Projekt Tango investieren, bis er sein Taxi für immer parken konnte. Doch der Tanzlehrer sah sich als Messias des Tango: „Wenn die Leute erst einmal begreifen, was Tango ist, dann werden sie schon noch verrückt danach werden.“

Der Tanz als Ausdruck für Erotik. Der Mann übernimmt die Rolle des leidenschaftlichen Machos, der die Dame im Tanz bedient. „Der Tangero erspürt im Tanz das Körpergefühl des Partners, wie es sonst erst im Bett möglich ist.“

Doch Anfang der achtziger Jahre tat sich in Berlin noch eine andere Tangoszene auf: Für die Berliner war sicherlich eine Konzertzusammenstellung unter dem Motto „Horizonte“ das Schlüsselerlebnis. Das als Tango-Jazz- Event anberaumte Festival lockte vor allem Freunde der Nischenmusik: ein paar Weltmusikfans, Jazzer und eben Tangeroliebhaber. Doch schon bald machten Platten und Bänder jener Festivalcombos die Runde. Fasziniert von den ungewohnten Bandoneonklängen des Altmeisters Astor Piazzola, griffen nun auch deutsche Musiker zur guten alten Quetschkommode und entdeckten die Liebe zum melancholischen Tango. Wie etwa Paul Raackow, der heute stolz darauf ist, daß er im kommenden Dezember zusammen mit seiner Band Tango Real als erste deutsche Tangomusiker zum Festival nach Buenos Aires geladen ist.

„Tango ist mehr als nur auf der Tanzfläche zu schmusen, es ist eine Haltung“, versucht er diese zu erläutern: Tango beschreibe die Sehnsucht nach einer anderen Welt, handele von Verlust und Trauer und zugleich vom Überwinden der Trauer. Mehr noch: Tango resultiere aus Fatalismus und Nostalgie, hervorgerufen durch das Heimweh, welches die europäischen Auswanderer in Argentinien und Uruguay beschlichen haben muß, nachdem sich die neue Welt als karg und eher wenig optimal erwiesen hat.

Abschied, Heimweh, Melancholie – das kennt man hier auch. Und keine Frage, Raackow verkörpert in dieser Hinsicht die vielleicht eher tragische, bestimmt aber puristische Position: „Das Soloprogramm der Musiker interessiert die Tänzer doch gar nicht.“ Das soziale Umfeld der Berliner Tänzer interessiert ihn wiederum wenig. Zwei Tangoszenen, die anscheinend nur wenig Berührungspunkte haben.

Für die Tänzer soll Tango vor allem tanzbar sein. Während in Buenos Aires und Tokio, ja selbst in Städten wie München oder Stuttgart gern zu Live-Orchestern getanzt wird, kommt in den Berliner Ballsälen der Sound vornehmlich aus der Konserve. Tritt mal eine – der vergleichsweise wenigen – Tangokapellen der Stadt auf, so spielt sie auf einer Konzertbühne. Die Tanzgelegenheit beschränkt sich auf eine eher kleine Fläche am Rande der Bühne.

„Das ist alles eine Frage des Geldes“, erklärt Dietrich Lange. Bis zu 8.000 Mark kostet ein richtiges Ball-Event mit einem guten Orchester. „Während die Leute in Frankfurt oder München bereit sind, bis zu 45 Mark für so einen Abend auszugebeben, zahlt der Berliner niemals mehr als 25.“

Doch Tanzlehrer Dietrich tanzt ohnehin kaum noch in der Öffentlichkeit. Lieber übt er daheim, in seiner Schule mit seiner Partnerin für den nächsten Vortanztermin. Und wenn man die beiden so wirbeln sieht, dann sieht das auf einmal ganz einfach aus, gar nicht nach Schwerstarbeit, wie auf den öffentlichen Parketts der Stadt.

Profis wie Lange bringen auch den eifrigen Mohammed ins Grübeln: „Wir Nicht-Argentinier betreiben eben doch nur eine Imitation vom Tango.“ Er führt ein Beispiel an, mit dem er sich auskennt. Bloßes Schritte-Lernen sei nicht alles: „Es ist vergleichbar mit Europäerinnen, die Bauchtanz lernen. Sie bemühen sich um Virtuosität – und am Ende verpassen sie den Blick für das Wesentliche.“