Schlammlawine begräbt drei Dörfer

Hurrikan „Mitch“ löst in Nicaragua einen riesigen Erdrutsch aus, der mindestens 1.500 Menschen begräbt. Die Opfer sind meist illegale Siedler. Auch andere Länder Zentralamerikas sind von den Stürmen betroffen  ■ Von Toni Keppeler

San Salvador (taz) – „Es war Mitternacht, und es regnete seit Stunden in Strömen. Da hörten wir plötzlich ein Donnern. Ein paar Sekunden später war alles von einer riesigen Schlammlawine begraben, Menschen, Bäume, Tiere und Häuser. Nichts ist übriggeblieben“. So schilderte ein Überlebender in einer lokalen Radiostation die Katastrophe, die bereits in der Nacht zum Freitag über die Dörfer am Fuß des Vulkans Casitas im Nordwesten Nicaraguas hereinbrach. Erst am Sonntag erreichten die wenigen, die der Schlammlawine entkommen waren, das nächste Dorf und machten die Nachricht bekannt.

Das gesamte Ausmaß des Unglücks war zunächst noch nicht zu überblicken. Schätzungen zufolge kamen mindestens 1.500 Menschen ums Leben. Der Erdrutsch verschüttete ein Gebiet von rund zwanzig Quadratkilometern. Die Dörfer Versalles, El Porvenir und Rolando Ramirez sind völlig im Schlamm versunken, die Ortschaften Ojochal und El Torreon zum Teil. Vorher lebten dort rund 2.000 Menschen.

Vor zehn Tagen war der Hurrikan „Mitch“ mit Windgeschwindigkeiten von zum Teil über 300 Kilometern in der Stunde im Norden von Honduras auf die mittelamerikanische Landbrücke gestoßen. Metereologen stuften ihn als einen der zehn schwersten karibischen Stürme in diesem Jahrhundert ein. Doch die eigentliche Katastrophe begann erst, als „Mitch“ nach drei Tagen an Wucht verlor und zum „tropischen Unwetter“ herabgestuft wurde. Seither regnet es in Honduras und Nicaragua ohne Unterlaß, seit Samstag auch in El Salvador und im Süden von Guatemala.

Nach offiziellen Angaben waren bis zum Sonntag abend knapp über tausend Tote in Zentralamerika registriert worden. Dazu kommen mindestens 700.000 Obdachlose. Fast durchweg traf es die Ärmsten. Denn nur sie bauen ihre Hütten in jenen Gebieten, die im Jargon der örtlichen Katastrophenbürokraten „zonas de alta riesgo“ (Hochrisikogebiete) heißen und wo in jeder Regenzeit Hüttenviertel weggespült oder verschüttet werden: an Flußufern und steilen Hängen, die wirtschaftlich so wertlos sind, daß niemand die illegalen Siedler vertreibt.

Überschwemmungen und Erdrutsche gab es nicht nur im Nordwesten Nicaraguas, sondern auch in den südlichen Departements Masaya, Granada und Rivas, und in der Provinz Nueva Segovia im Norden soll nach Rundfunkberichten ein ganzes Dorf unter den Wassermassen der Zuflüsse des Choluteca verschwunden sein. Insgesamt wurden nach ersten Regierungsschätzungen 70 Prozent des Straßennetzes des Landes zerstört. Managuas Kardinal Miguel Obando y Bravo war konsterniert. „Ich habe Erdbeben erlebt und Dürrezeiten, zwei Kriege, Hurrikane und Seebeben“, sagte er. „Aber das hier ist das Schrecklichste, das ich je gesehen habe.“

Am undurchsichtigsten ist die Lage in Honduras. Der gesamte Norden, das Industrie- und Landwirtschaftszentrum des Landes, ist noch immer unzugänglich. Die wichtigsten Verbindungsstraßen sind unterbrochen, die meisten Brücken von den Wassermassen weggerissen. Bereits Mitte vergangener Woche hat die Regierung aufgehört, die Toten zu zählen, und spricht seither konstant von 250 Opfern.

Auch die Hauptstadt Tegucigalpa, wo es am Freitag zu regnen begann, wurde teilweise von Erdrutschen zerstört. Bürgermeister Cesar Castellanos schätzte den Schaden auf mindestens zwei Milliarden Mark. Um sich ein Bild von der Katastrophe zu machen, bestieg er einen Hubschrauber der Armee und wurde selbst zum Opfer. Der Helikopter stürzte ab, Castellanos kam zusammen mit drei weiteren Insassen ums Leben. Die oppositionelle Nationale Partei verlor damit ihren populärsten Politiker, der bereits begonnen hatte, sich als Kandidat für die Präsidentschaftswahl im Jahr 2001 aufzubauen.