Heimsuchungen

Unica ist eine andere: Die Berliner NGBK zeigt Zeichnungen, Collagen und Texte der Künstlerin Unica Zürn  ■ Von Detlef Kuhlbrodt

Der Satz Arthur Rimbauds, ich sei ein anderer, war das Lieblingszitat der Surrealisten. Die 1916 in Berlin geborene Schriftstellerin und Zeichnerin Unica Zürn stand den Surrealisten seit den fünfziger Jahren recht nahe. 1970 nahm sie sich das Leben. Zur Zeit sind 222 ihrer Bleistift- und Tuschezeichnungen, Collagen, Radierungen und Gemälde in den Kreuzberger Räumen der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst zu sehen.

Zwei Jahre hatte es gedauert, um die in Galerien, Privatbesitz und dem Nachlaß verstreuten Bilder aufzustöbern. Als ich bei der Ausstellungseröffnung dann nach einem Pressekatalog fragte, wollte man meinen Namen wissen, der den Mann, der für die Vergabe der Kataloge zuständig war, allerdings verwirrte: „Du bist gar nicht Detlef Kuhlbrodt“, sagte er, nachdem er mich prüfend angeschaut hatte. „Den kenn' ich.“ Eine seltsame Erfahrung. Ich kannte den nicht, der mich zu kennen vorgab; vielleicht hatte ich aber nur sein Aussehen vergessen. Wer war ich bloß? Grippal schwer angeschlagen in meinem blauen Mantel in einem blöden Herbst, dachte ich, mein Aussehen hätte sich möglicherweise, ohne daß ich es gemerkt hatte, so sehr verändert, daß ich nun ein anderer war als der, der mit dem Mann an den Katalogen in einer vergessenen schönen Zeit wohl geplaudert hatte. Für Momente war ich sehr verunsichert. Zum Glück hatte ich einen Ausweis dabei, der mir und ihm meine Identität bestätigte. Es stellte sich heraus, daß er mich mit meinem Wahlonkel Dietrich verwechselt hatte. Dann gab er mir den Katalog, der bei Brinkmann & Bose erschienen ist, wie die sehr schöne blaue Werkausgabe, die nach mehr als zehn Jahren demnächst fertig sein wird.

Die meisten der weder mit „o.T.“ noch sonstwie betitelten Bilder kann man nicht mit einem Blick erfassen. Sie ufern aus, sie haben kein Zentrum, das die feingliedrigen Spinnenbeine/Striche organisieren könnte. Sie haben eine Außengrenze, eine Gestalt, die Unica Zürn manchmal überschritt. Man schaut in die Bilder und verliert sich in immer neuen Gestalten. Manches erinnert an die polymorph-perversen Zeichnungen Hans Bellmers (seine Illustrationen von Batailles „Geschichte des Auges“), der von 1953 bis 1970 ihr Lebensgefährte war, wobei dahingestellt sei, wer wen und wie beeinflußt haben mag.

Landkarten, Fabelwesen, wirbelsäulenartige Gebilde, Floralitäten, Ornamente, unendlich viele Punkte, Wimmelbilder, Aliens (vor ihrer öffentlichen Etablierung) – manches erinnert an die meskalinoiden Zeichnungen Henri Michaux', den sie auch sehr verehrte. Psychosen und drogeninduzierte Rauschzustände scheinen einander doch recht nah zu sein. Anders als Zürns Texte entstanden ihre Zeichnungen in vielen Fällen während ihrer Anstaltsaufenthalte. „Trotz aller Probleme mit ihren Störungen, besonders in den Phasen tiefer Depression, war sie immer über deren halluzinatorische Anwandlungen erfreut, die sie unterstützte, indem sie ein in der Realität vorhandenes Zeichen weiterzeichnete“, heißt es im Katalog. „Mit dem auftauchenden Mond wird das Zimmer zum Garten: Die Wände verschwinden oder bestehen nur noch aus dem Schatten von Blättern und Zweigen. Ein silberner Lichtfleck beginnt sich zu bewegen, wie ein Zeichen, wie ein Finger, der auf etwas deuten will. (...) Dieses kleine Licht inmitten der Blätterschatten wird größer und kleiner, wie ein Augenzwinkern. Licht und Schatten formen sich deutlich zu sehr kleinen Personen. Zwei Gruppen haben sich gebildet, die sich einander auf eine zierliche und zeremonielle Weise nähern. Welch ein Schauspiel!“ schreibt Unica Zürn.

Immer wieder Augen und Gesichter, die sich über Gesichter legen, die über Gesichtern liegen. „Seit jeher besessen von Gesichtern, zeichnet sie Gesichter. Nach dem ersten zögernden ,Schwimmen‘ der Feder über dem weißen Papier entdeckt sie den Ort für das erste Auge. Erst wenn ,man‘ sie von dem Papier her anblickt, beginnt sie sich zu orientieren. So zeichnet sie die ,Familie‘, die sie nie gehabt hat, und läßt sich von ihr adoptieren“, schreibt sie in „Der Mann im Jasmin“. Ihre fast heiteren Bilder aus den frühen 50er Jahren erinnern zuweilen an Paul Klee. Viele ihrer späten Zeichnungen sehen aus, als seien sie in einem Strich gemalt worden – verknäuelte Linien, aus denen nur noch zaghaft mal ein Gesicht hervorschaut. Neben eine Zeichnung aus dem Februar 1970 hat sie geschrieben: „plötzlich abstrakt“. Die Abstraktions-, also Sublimationsfähigkeit, die vor dem Leiden schützt, bekommt hier etwas ausweglos Düsteres.

„Nach dreiundvierzig Lebensjahren ist mein Leben noch nicht ,mein‘ Leben geworden“, schrieb sie 1959. Und: „Ich werde heimgesucht, als wäre ich für etwas Unbekanntes die einzige Heimat.“ Oder in einem späten Text: „Sie rauchen – der Rauch wird dichter und dichter um sie her – die Umgebung verschwindet, nur ihre beiden blassen, müden Gesichter sind noch sichtbar. Sie sind plötzlich die einzigen, die letzten auf dieser Schmerzenswelt. Niemand ist da – das Haus – die Welt – alles ist geleert von Lebendigen und Toten. Eine unendliche Einsamkeit und wahrscheinlich eine ewige Nacht, ohne kommenden Morgen. Sie schweigen und rauchen. Es ist totenstill im Haus, in der Welt. Welche Traurigkeit das Leben – welche Einsamkeit – der Tod.“

Bis 22.11., NGBK, Berlin. Katalog, Verlag Brinkmann & Bose, 36 DM

10.1. bis 28.2. 1999, Museum Bochum; 18.4. bis 30.5., Gerhard- Marcks-Haus, Bremen