Liebhaber großer Vögel

Warum man morgens um sechs frierend auf einem Acker steht und ein paar tausend Kranichen beim Aufwachen zuschaut  ■ Von Heike Haarhoff

Kraniche“, sagt er zu ihr. Dann, nach einer Pause: „Es gibt da dieses Gedicht von Brecht.“ Er grübelt.

Sie fragt ihn noch einmal. Bald werden die Kraniche weg sein. Anfang November verlassen die grau- weiß gefiederten Grazien mit den Stelzenbeinen, den gezackten Flügeln und dem roten Häubchen auf dem Kopf zu Tausenden ihre Rastplätze in Nordvorpommern und brechen zu ihrem langen Flug nach Südspanien auf, wo sie den Rest des Winters verbringen. Erst im Frühjahr werden sie zusammen mit dem Licht und der Wärme nach Mecklenburg-Vorpommern zurückkehren. Wer den „Vögeln des Glücks“, wie die Kraniche in der Mythologie deswegen heißen, vorher tschüs sagen möchte, muß sich jetzt auf den Weg machen zu den Stoppelfeldern von Groß Mohrdorf bei Stralsund.

Er will nicht. Die Kinder, der Job, der weite Weg. Nur wegen der Viecher bis kurz vor die polnische Grenze reisen? „Erzähl mir, wie es war.“

Sieh jene Kraniche in

großem Bogen!

Die Wolken, welche ihnen

beigegeben

Zogen mit ihnen schon,

als sie entflogen

Aus einem Leben in ein

andres Leben

Noch keine halbe Stunde auf dem zugigen Feld bei Groß Mohrdorf inmitten dieser flachen und baumlosen vorpommerschen Ackerlandschaft, und das Gefühl verstärkt sich, daß gleich Finger und Zehen absterben. Die dicksten Handschuhe und die wollensten Socken nützen wenig, wenn man sich nicht rühren darf. Jede hastige Bewegung würde die scheuen Kraniche aufschrecken.

Gut 300 Meter entfernt stelzen sie über das abgeerntete Feld, eine graue Masse unter klarem Winterhimmel auf der Suche nach ein paar Maiskörnern, die den Erntemaschinen entgangen sind. Scharen von Vögeln, die den Acker belagern, und dennoch hätte Hitchcock wenig mit ihnen anzufangen gewußt. Von Kranichen geht nichts Bedrohliches aus. Mit bloßem Auge könnte man die einzelnen Hähne und Hennen aus dieser Distanz ohnehin kaum unterscheiden; was die Kraniche verrät, sind ihre Rufe. Ach was, Rufe. Ihr Geschrei, ihr mal zänkisches, mal zärtliches Gekreische. Dieser Höllenlärm, dessen Erzeugung sie ihrer in der Tierwelt einmaligen Luftröhre zu verdanken haben. 1,20 Meter lang ist das verknorpelte und in sich gewundene Organ, würde man es geradeziehen. Ein Stimmvolumen, das sämtliche Trompeten aller Staatsorchester nicht zu überbieten vermögen: „Grus Grus“, ein trefflicherer Name hätte den alten Römern nicht einfallen können für die Kraniche.

In gleicher Höhe und mit

gleicher Eile

Scheinen sie alle beide nur

daneben.

Daß so der Kranich mit der

Wolke teile

den schönen Himmel, den

sie kurz befliegen

Solange sie sich vor menschlichen Lausch- und Beobachtungsangriffen sicher fühlen, sind die Kraniche sehr kommunikativ. Langjährige Hobby-Vogelkundler wie Christian Hütter wissen das. Reglos harrt er hinter der Sichtschutzwand aus Holz und Reisig aus. Die hat Kranichschutz Deutschland, eine Arbeitsgemeinschaft des World Wide Fund for Nature und des Naturschutzbundes Deutschland, hier am Feldrand aufgestellt, mit finanzieller Unterstützung von der Lufthansa Umweltförderung, deren Firmenemblem der Kranich ist. Das schwere Objektiv seiner Kamera hat Hütter durch ein Loch in der Wand geschoben, als sei's eine Schießscharte, das Restgewicht der Kamera hält ein Stativ.

Leichtfüßig bewegen sich die Kraniche – trotz ihres 1,20 hohen Körpers und ihrer stattlichen sechs Kilo Gewicht. Oft, beispielsweise während der Balz, umtänzeln sie sich stundenlang. Doch derzeit scheinen sie außer Trompeten und Futtern nichts im Sinn zu haben. Sobald ein Maiskorn erspäht wird, senkt sich der lange, dünne Hals zu Boden. „Die Kraniche haben viel Menschliches, wie sie so mißgünstig sind und sich gegenseitig vom Futterplatz vertreiben“, schmunzelt Hütter.

Daß also keines länger hier

verweile

Und keines andres sehe als

das Wiegen

Des andern in dem Wind,

den beide spüren

Die jetzt im Fluge

beieinander liegen

So mag der Wind sie in das

Nichts entführen

Wortlos und breitbeinig steht Kranichbeobachter Hütter da, im Parka, mit derben Lederhandschuhen, Mütze, Arbeitshose und Wanderschuhen. Fröstelnd, aber glücklich. Das Auge an der Linse, den Finger am Auslöser, so wie seine Kumpel, die sich hier jedes Jahr im Herbst aus allen Teilen der Republik einfinden. „Das ist unser Hobby.“ Hütter, im Berufsleben Bäcker in der Bergbaustadt Bergkamen am Rand des Ruhrgebiets, opfert für die Kraniche einen Großteil seines Jahresurlaubs. Er ist einer von vielen, die dem mecklenburg-vorpommerschen Tourismusverband im verregneten Oktober noch einmal einen Knick nach oben in der Übernachtungszahlenstatistik bescheren.

Zwischen 20.000 und 30.000 Kraniche machen jedes Jahr auf ihrem Weg von Skandinavien nach Spanien in Mecklenburg-Vorpommern Rast. Seit Jahrhunderten kommen sie wegen der sicheren Schlafplätze, die ihnen die vorpommerschen Flachgewässer bei Bisdorf, Prohn und Pramort in der sogenannten Rügen-Bock-Kirr- Region bieten. Ein Kranich liebt es, im 20 Zentimeter tiefen Wasser stehend zu übernachten, da ist er vor den Füchsen sicher.

In Europa, wo große Feuchtgebiete entwässert wurden, sind solche Rastplätze rar geworden. Auch in Vorpommern sind die Kraniche bedroht. Immer mehr Bauern können es sich nicht leisten, ihre Stoppelfelder über den Winter stehenzulassen. Sobald die Ernte eingefahren ist, wird neu ausgesät. Damit verschwindet die Nahrungsgrundlage für die Vögel. Weil es keine Ernteabfälle mehr gibt, weichen die Kraniche auf die Neusaaten aus. 700.000 Mark Schadenersatz hat das Land deswegen allein zwischen 1994 und 1996 an die Bauern gezahlt. Inzwischen ist es Kranichschutz Deutschland gelungen, einige Äcker vertraglich als Stoppelfelder zu schützen.

Wenn sie nur nicht vergehen

und sich bleiben

Solange kann sie beide

nichts berühren

Solange kann man sie von

jedem Ort vertreiben

Wo Regen drohen oder

Schüsse schallen.

Der Bremer Zimmermann Manfred Tilsner hat vorsichtshalber 30.000 Mark in seine Kamera gesteckt, damit sich die Bilder auch dann nicht verflüchtigen, sollten die Kraniche irgendwann doch vertrieben oder es mit seinem Gedächtnis nicht mehr so weit her sein. Diese Faszination, wie die cranes anmutig und mit nach hinten gestreckten Beinen durch die Lüfte fliegen! Und wie die Kraniche dann, kurz vor der Landung, die Beine ausfahren, „da geht das Herz auf, da brauchen Sie kein Vogelnarr zu sein“, sagt der Rentner Winfried Daniels aus Kempen am Niederrhein.

1946, mit neun Jahren, hat Daniels seinen „ersten Vogel gehabt“, einen ebenso zierlichen wie gelehrigen Polarbirkenzeisig, seitdem ist sein Forschungsdrang ungebrochen. Allein „zehn Stunden Video über Kraniche“, lädt er die Umstehenden ein, habe er zu Hause. Plötzlich hält er inne. Ein paar Kraniche, die er sich herangezoomt hat, schnäbeln wegen ein paar strittiger Maiskörner heftig aufeinander ein. Das darf ihm nicht entgehen. „So wie se da stehen, krieg' ich se auf'n Fernsehapparat.“

So unter Sonn und Monds

wenig verschiedenen

Scheiben

Fliegen sie hin, einander

ganz verfallen.

Wohin ihr?

Nirgendhin.

Von wem davon?

Von allen.

Kranichbeobachter sind meist allein unterwegs. „Meine Frau hat da keinen Sinn für“, bedauert der Rentner vom Niederrhein. „Um crane-crazy zu werden, braucht man keinen Partner“, weiß Günther Nowald, Leiter des Kranichinformationszentrums in Groß Mohrdorf, wo es von Schautafeln über Ausstellungen, Filmvorführungen und Büchern alles über Kraniche gibt, was der Markt zu bieten hat. Was genau aber macht ihren Zauber aus? Die Tatsache, daß Kranichpaare ein Leben lang beieinander bleiben? Daß sie sich beim Brüten abwechseln? Daß sie als wachsam und treu gelten? Werte, Ideale, Eigenschaften, nach denen Menschen immer nur auf der Suche sind?

Günther Nowald will antworten, aber dafür muß man um fünf Uhr morgens aufstehen und sich aufmachen zum Kranichbeobachtungsstand, der auf wackligen Stelzen inmitten einer sumpfigen Wiese thront. Dahinter meterhohes Schilf und irgendwann die morastigen Bodden- Flachgewässer. Wieder ist es eiskalt, aber diesmal auch noch dunkel. Nicht ein Kranich ruft. Es wird sechs, halb sieben. Nichts. Heißer Tee kippt haarscharf an Tassen vorbei, verbrüht die Finger. Taschenlampen anknipsen verboten. Man möchte den Entschluß schon bereuen, mitgekommen zu sein, da setzt die Morgendämmerung ein.

Erst sind es nur winzige, reglose grau-schwarze Punkte am Horizont. Dann lassen sich durchs Fernglas erste Bewegungen erkennen, zaghaft, linkisch, verletzlich, wie es sie nur kurz nach dem Erwachen gibt. Die ersten Kraniche staksen aus dem Wasser an Land. Gefieder wird geputzt, der eine oder andere schüttelt sich. Mit einem Mal ist es aus mit der Nachtruhe, die trompetenden Rufe signalisieren Aufbruch. Ein klarer, sonniger Morgen. Die ersten Kraniche heben ab. Majestätische 2,20 Meter Flügelspannweite werden ausgefahren, Körper und Beine langgestreckt. Erst in Gruppen zu dritt oder fünft wird losgeflogen, „gerudert“, berichtigt Kranichexperte Nowald, „Kraniche sind aktive Ruderflieger“, dann in immer größeren Scharen. Nebeneinander, hintereinander, in Zickzack- Formationen, Kreisen und Schlangenlinien fliegen die Kraniche dahin, ohne sich jemals in die Quere zu kommen. Es ist laut wie auf einem Basar, und plötzlich sind sie da: 20.000 Kraniche am Himmel und keine Worte, sie zu fassen.

Ihr fragt, wie lange sind sie

schon beisammen?

Seit kurzem.

Und wann werden sie sich

trennen?

Bald.

So scheint die Liebe

Liebenden ein Halt.

Viel Zeit ist vergangen. Da fällt es ihm ein. „Es geht um das Nebeneinanderherfliegen. Ich glaube, das war dem Brecht wichtig.“ Sie weiß es schon. Jedes weitere Drängen auf einen gemeinsamen Besuch bei den Kranichen wäre, um im Bild zu bleiben, einer Störung des Flugraums gleichgekommen.