Verdammt, verhöhnt, verspottet

Mythen der Gegenwart: Der argentinische Fußball. Auf Stippvisite bei einem schäbigen Ligaspiel von Meister Velez Sarsfield – jenseits greller Lichter und Evita  ■ Aus Buenos Aires Albert Hefele

Soviel steht fest: Sarsfield ist keine feine Gegend. Einer der zahllosen Häuserhaufen abseits des pulsierenden Zentrums von Buenos Aires, wo die riesigen Leuchtreklamen blühen längs der Avenida 9 de Julio. Auch keine Arbeitergegend, wie die Kohlenpottreviere. Hier haben viele keine Arbeit, darum ist alles ein bißchen schäbig, kein Geld für kosmetische Korrekturen. Weit weg vom Barrio Norte, wo die Reichen sich um einen Platz auf dem Cementerio de la Recoleta balgen.

Das ist nicht etwa eine Loge in der Oper oder ein Tribünenplatz auf der Rennbahn – der Cementerio ist ein Friedhof. Wer hier liegen darf, gehört bzw. gehörte dazu. Und die Angehörigen freuen sich, daß der Opa neben Evita Duarte alias Perón zu liegen kommt. Die Leute in Sarsfield haben andere Sorgen. Viel Zeit und wenig, auf das man stolz sein könnte. Velez Sarsfield, der Fußballklub, gehört dazu. Trotz Boca Juniors, trotz Independiente, trotz River Plate – Velez ist einer der erfolgreichsten Klubs in Buenos Aires – und damit in Argentinien. Meister der Saison 97/98 beispielsweise.

Das Stadion sieht nicht nach Erfolg aus. Ein trister, spärlich beleuchteter Klotz, nicht gerade einladend für den visitante. Alle, die nicht nach Sarsfield gehören, sind visitante. Besucher wohlgemerkt, keine Gäste, die Sitten im argentinischen Fußball sind rauh. Die Gewalt in den Stadien ist ein Problem, man hat mich gewarnt: Velez gegen Talleres – das geht gerade noch. Vielleicht weil Talleres kein Hauptstadtverein ist. Alles, was außerhalb der Capital Federal lebt, ist für die porteños, die Hauptstädter, nicht der Rede wert. Einen richtigen Krawall schon gar nicht.

Überhaupt hält sich das Interesse der Fans in Grenzen. Auch im nur auf den allerersten Blick ansehnlichen Café Velez tut sich nicht viel. Kaum Publikum auf dem zerschrammten Kunstleder der Metallrohrstühle. Ob das Café schon bessere Zeiten gesehen hat, ist fraglich. Die älteren Herren an der matten Resopaltheke vielleicht? Wie sie den Kaffee mit verblühter Grandezza aus den Täßchen schlürfen... Der sich in einem verbeulten blauen Jäckchen nähernde Bediener vielleicht? Der wie ein Ober tut, einen fadenscheinigen Lappen über dem Arm, mit dem er geschmeidig die Krümel vom Tisch fegt? Die riesige Flasche Bier kostet drei Pesos, und ein runder Herr hinter der Theke prüft den 50-Pesos-Schein sorgfältig gegen das Licht der Neonfunzel. So was kriegt er nicht jeden Tag zu sehen. Ich vermisse die nervöse Spannung, die in unseren Breiten vor jedem Bundesligaspiel herrscht. Nicht mal der auf dem Schrank flackernde Fernseher bietet mehr als buntes Schneegestöber. Obwohl das Spiel natürlich live übertragen wird.

Alle Spiele werden live übertragen und am nächsten Tag in voller Länge wiederholt. Unnötige Aufregung scheint den porteños jedenfalls fremd zu sein. Wo bleibt der südamerikanische Enthusiasmus? Wozu die berittene Polizei, die lange Reihe knüppelhaltender, helm- und schildbewehrter Aufpasser vor dem Tor der visitanteros? Auch wenn in Buenos Aires Polizeipräsenz zum allgegenwärtigen Bild gehört – hier scheint der Aufwand etwas übertrieben zu sein. Ein ganz normales, mäßig besuchtes Ligaspiel. Noch kurz vor dem Anpfiff ist das penetrante „Money! Money!“ der Cola- und Erdnußverkäufer die einzige nennenswerte Lautäußerung im höchstens zu einem Drittel besetzten 30.000-Zuschauer-Stadion.

Wozu also die Aufregung?! Zehn Minuten später weiß der visitante Bescheid. Kaum ist auf der steinzeitlichen Anzeigentafel flackernd die Aufstellung erschienen, kaum hat das Spiel begonnen, schon geht die Post ab. Nie hätte man sich träumen lassen, daß knappe zehntausend Menschen eine solche Kulisse bilden können. Alles in Bewegung, alles auf den Beinen. Schlachtgesänge mit der Inbrunst von Chorälen, die wie ein scharfer Eishauch vom Block der Einheimischen herüberpeitschen.

Mit der gleichen Begeisterung, der gleichen Wucht wird der Gegner verdammt, verhöhnt, verspottet. Plötzlich versteht man, warum die Gastmannschaft zu Beginn des Spieles nicht einfach auflaufen kann, sondern eingeschleust wird, ausgespuckt von einem riesigen Kunststoffschlauch, einer Art reklamestrotzendem Mammutpräservativ. Die Fans in Buenos Aires verschwenden keinerlei Mühe darauf, sich fair zu gebärden. Die anderen sind die Bösen. Prinzipiell und ohne Einschränkungen.

Wie vorsichtig und respektvoll sich der porteño auch außerhalb des Stadions gegenüber Fremden verhalten mag – nach dem Überschreiten der Stadionschwelle scheint er gründlich die Identität zu wechseln. Ein donnerndes „Burro!“ – Esel – ist noch die harmloseste der zahllosen Schmähungen. Plötzlich versteht man, warum der Wassergraben zwischen Spielfeld und Tribüne so tief und der Drahtkäfig um den Block der Besucher vier Meter hoch sein muß. Ein Publikum wie ein mächtiges Tier, unberechenbar und furchteinflößend für den Gegner, Adrenalin für die eigene Mannschaft. Der dann auch nichts anderes übrig bleibt, als nach vorne zu spielen. Mit Leidenschaft, Härte und auf einem unglaublich hohen technischen Niveau. Kein unnötiges Gefummle für die Galerie: Technik im Dienste schnellen Raumgewinns. Ruhephasen mit Ballhalten und „den Gegner kommen lassen“ können sich die Spieler um den schon nahezu legendären Torwart Chilavert nicht leisten. Auch nachdem er einen Elfmeter versenkt und das nicht enden wollende „Goooooool!!!“ der TV-Kommentatoren die Scheiben der Sprecherkabinen zum Beben gebracht hat. Dieses Publikum kriegt man nur im Vorwärtsgang.

Sarsfield gewinnt 3:0, und eigentlich ist alles gut. Im Café Velez sind nach dem Spiel trotzdem die fetten Gitter zum Schutz der Fenster heruntergelassen. Man kann schließlich nie wissen. Sarsfield ist keine feine Gegend.