Mit verrutschtem BH durchs Leben

■ Man hat's nicht leicht als junger Mensch: Silvia Szymanski erzählt episodisch vom unendlichen Mantra postpubertärer Selbstzerfleischung

Wenn jemand seinen ersten Roman ausgerechnet über seine Jugend schreibt, ist das oft eine recht depressive Angelegenheit. Die letzten Pickel, die ersten Beziehungskatastrophen, kein Job oder ein Scheißjob, und das Selbstbewußtsein sitzt irgendwo unterm eingewachsenen Zehennagel und will einfach nicht ans Tageslicht: Man hat's nicht leicht als junger Mensch. Beziehungsweise wenn man's leicht hat, wird man Jungmanager und quält sich nicht gerade als Dichter ab.

Die männlichen Exemplare derer, die ihre Adoleszenz mit traurigen bis ironischen Bluesakkorden besingen, leiden am liebsten unter der Abwesenheit der Frau: My baby left me this morning, buhuhu... Das Werther-Modell sozusagen. Frauen dagegen leiden unter der Anwesenheit von Männern, denn die sind so unendlich dröge. Auch Silvia, Heldin von Silvia Szymanskis Debütroman „Chemische Reinigung“, folgt dem Modell Madame Bovary: Sie hat einen Mann respektive einen Freund, aber langweilt sich zu Tode. Sie will Sex, sie will Abenteuer, sie will Anerkennung. Aber in Merkstein am Niederrhein, irgendwo zwischen Aachen und Düsseldorf, hat die männliche Dorfjugend anderes im Kopf: „Man müßte sich unheimlich anstrengen, um für einen Jungen das zu sein, was Bier für ihn ist. Mir ist nicht nach solchen Anstrengungen.“

Silvia ist 22 und strengt sich generell nicht gern an – wenn man davon absieht, daß sie immer wieder die fast übermenschliche Selbstbeherrschung aufbringt, ein Abendessen mit ihrer Familie ohne hysterische Anfälle zu überstehen. Tagsüber klebt sie in der chemischen Reinigung Preisschilder an Bundfaltenhosen; abends hängt sie im „Saftladen“ rum und sieht zu, wie junge Niederrheiner in engen Jeans mit zackigen Bewegungen zu Ideal tanzen. Die Haare sind wieder kurz und bunt gefärbt, die ersten Drogenwracks tauchen im Dorf auf, das Licht in der Disco ist so neonweiß wie die Haltung cool: Neue-Deutsche-Welle-Zeit.

Auch Silvia hat eine Band gegründet. Sie covern Schlager. „Du mußt nicht überall mitreden wollen, wo du nichts von verstehst“, sagen ihre Mitmusiker, wenn sie am Sound rumbasteln. Den Leuten, die schlecht von ihr reden, glaubt Silvia unbesehen. Gelegentlich fährt sie nach Aachen und knutscht mit glutäugigen fremden Jungs. Und schämt sich, wenn ganz Merkstein „Schlampe“ schreit.

So plätschert der Roman vor sich hin: eine etwas formlose Folge von Episoden und Betrachtungen, unterlegt mit dem unendlichen Mantra postpubertärer Selbstzerfleischung. Literarische Finessen sind nicht gefragt. Dafür bietet die „Chemische Reinigung“ Milieustudien aus einer Perspektive, wie man sie nicht ständig serviert bekommt: die der intelligenten jungen Frau, die die Stumpfheit ihrer machistischen Umgebung erkennt, ohne ihr entkommen zu können. Die Jungs, die beim Pinkeln die Schwanzlänge vergleichen und mit dem Furzen warten, bis sie wieder in Gesellschaft sind; die Mädchen, die einmal in der Woche im Saftladen Teeabend veranstalten und ansonsten zugucken und die Klappe halten; die Chefin in der chemischen Reinigung, die mit verrutschtem BH durch ein auf exotische Weise erfülltes Leben voller Ehemänner und Enkel rennt: Das ist genau beschrieben, scharf kommentiert und mit dem Schuß resignativem Witz versehen, den man braucht, um nicht von der Trostlosigkeit erschlagen zu werden. Die Schonungslosigkeit, mit der die Ich-Erzählerin ihre Schüchternheit und Antriebslosigkeit analysiert, wirkt bei allen eingestreuten Kalauern absolut authentisch.

Nein, möchte man Silvia zurufen, versauere nicht in deinem Dorf, geh hinaus in die Welt und nutze deine Talente! Sie aber kontert mit buddhistischer Schicksalsergebenheit: „Ich habe auch im Kindergarten nicht verstehen können, worum es bei der Reise nach Jerusalem ging, und jedesmal verloren. Ich stand gerne. Sie konnten ihre Stühle ruhig haben, wenn sie so versessen darauf waren. Tja, und da stehe ich nun.“

Silvia Szymanski hat ihren Roman wirklich bereits Anfang der 80er geschrieben, als eine Art Tagebuch. Erst 15 Jahre später hat sie ihn veröffentlicht – nach einer gründlichen Überarbeitung. Wahrscheinlich hat dieser Abstand zum eigenen Schreiben erst diese eigentümliche Mischung aus jugendlicher Bekenntnisprosa und distanzierter Szenebeschreibung ermöglicht, die „Chemische Reinigung“ ausmacht: gleichzeitig amüsant und todernst, selten aber larmoyant.

Anders als ihr literarisches Vorbild bringt sich Silvia, die Madame Bovary vom Niederrhein, am Ende übrigens nicht um. Es passiert gar nichts – was auch. Und man ist froh, wenn man auf der letzten Seite angekommen ist. Nicht, weil „Chemische Reinigung“ ein schlechtes Buch wäre. Eher, weil man wohl selbst irgendwann einmal zu lange mit biersaufenden Typen in drögen Discos rumgestanden hat.

Elke Buhr

Silvia Szymanski: „Chemische Reinigung“. Roman. Reclam Verlag, Leipzig 1998, 152 Seiten, 16DM