Die Einfachheit des Ganzen

Das Glück des flüchtigen Augenblicks: James Salters Roman „Ein Spiel und ein Zeitvertreib“ ist eine Hommage auf die „kleinen Epiphanien“ des Lebens und auf das Erotische. Er zeigt, was sich sehen läßt, wenn man die Kunst der Wahrnehmung beherrscht  ■ Von Michael Westphal

Als der Erzähler den Hauptakteur Phillip Dean am Bahnhof von Autun in der französischen Provinz verabschiedet, klingt fast unmerklich auch die Romanhandlung aus. James Salter nutzt den Bahnhof nicht nur als prädestinierten Ort des Abschieds, sondern auch um einer erzählerisch brillanten Geste willen. Gemeint ist eine auf den konzentrierten Augenblick gerichtete Aufmerksamkeit, wie sie als Wahrnehmungsakt die moderne Literatur auszeichnet. „Moments of being“, Seinsmomente heißen sie exemplarisch bei Virgina Woolf, „Epiphanien“ bei James Joyce, „kleine Epiphanien“ nennt sie Salter. Es sind scheinbar isolierte und ekstatische Augenblicke des Sichtbaren, alltägliche Wahrnehmung, die blitzartig aufgenommen werden. Wie banal ist doch ein Gebäck in Lindenblütentee getaucht – aber was vermag es im Moment des Schmeckens auszulösen, und was hat Proust in seiner „Recherche“ daraus gemacht. Wie einfach ist jener geschilderte Augenblick in Virgina Woolfs skizzierten Erinnerungen – aber das ganze Reich der Kindheit schwingt darin mit: „Ich höre das Rouleau, das seine kleine Holzquaste an der Schnur über den Boden schleift, wenn der Wind es nach draußen bauscht.“ Und noch in der späteren Niederschrift das „Gefühl der reinsten Ekstase“ auszulösen vermag.

Momente, in denen die Zeit aufgehoben scheint, hält auch James Salters Erzähler emphatisch fest. Und das ist die Bahnhofsszene am Ende des Romans: „Wir stehen auf dem leeren quai, allein wie Möwen. Der Bahnhof ist trostlos. Die Uhr hat gerade schwarze Zeiger, die zucken, wenn sie sich bewegen. Plötzlich bin ich überwältigt von der Einfachheit des Ganzen: er fährt fort. Wir stehen hier und warten auf den Zug. Es ist die letzte Stunde.“ Das Bild ist bis zu dem Moment melancholisch gefärbt, als der Erzähler genau diese Stimmung mit einem „Plötzlich“ durchbricht und zu erfassen beginnt, daß von der „Einfachheit“ der Umgebung und ihrer Details eine Intensität ausgeht, die ihn „überwältigt“.

Nun wäre es naheliegend, auf die vielen erotischen Passagen des Romans einzugehen, also die sexuellen Begegnungen zwischen den beiden Hauptfiguren Dean und Anne-Marie. Auch sie sind hervorragend geschildert, sind aber reflektierend und führen zum Erzähler zurück, der schließlich die Aufgabe hat, zu übermitteln, welches Ende die ménage à deux nimmt. Übrig bleibt der Erzähler, der weiß: „Dauer ist alles ... Es hängt über den beiden wie ein ungesprochenes Urteil. Es liegt in ihrem Bett.“ Und der über die Einsamkeit weiß, „...daß sie mehr an Befriedigung bereithält als andere Zustände, aber trotzdem ist sie schwierig“. Salter stattet den Erzähler mehr und mehr mit Fähigkeiten und Einsichten aus, die seinen Protagonisten im Liebestaumel abhanden gehen. Vor allem aber beharrt dieser Erzähler auf der „Einfachheit“ der Dinge.

Die schöpft er aus und sieht: „Die Fenster der Häuser stehen offen, um die warme Morgenluft hereinzulassen.“ Und sieht: „Eine Stadt, in der es immer noch viele Fahrräder gibt. Am Morgen fließen sie leise an einem vorbei.“ Und hört: „Die Tauben grummeln. Um diese Zeit hat man immer das Bedürfnis, mit jemandem zu sprechen.“ In der Erfassung solcher Situationen, die James Salter seinem Erzähler überträgt, liegt die reichhaltige Wirkung dieses Buches. Es besticht durch die „Einfachheit des Ganzen“, wie es in der kleinen Bahnhofsszenerie offenkundig ist.

Inwieweit trifft das den Kern des Romans? Die Handlung selbst ist einfach. Der Erzähler gibt eine Geschichte wieder, an deren Anfang und Ende er beteiligt ist. Er ist ein wissender Dritter, der zwei Liebenden begegnet, ihnen vielleicht sogar zum (vermeintlichen) Glück verhilft. Wie der Erzähler zu den intimen Kenntnissen über die verschwenderische Liaison zwischen dem jungen Amerikaner Phillip Dean und dem französischen Mädchen Anne-Marie im „Herzen Frankreichs“ gelangt, das bleibt unbeantwortet und ist wahrscheinalich nicht von Belang. Ihm sind genaue Details anvertraut, und James Salter läßt keinen Zweifel aufkommen, daß sie bei diesem Erzähler gut aufgehoben sind. Sie sind es, weil er mit dem Blick für die „Einfachheit des Ganzen“ ausgestattet ist und über ein Sensorium verfügt, Nuancen und Details überhaupt erst zu einem Ganzen zusammenzufügen. Und er besitzt eine „Sensibilität für Schocküberfälle“, wie es Virginia Woolf genannt hat, ein „Gefühl der Verzückung“. „Schocküberfälle“ ist hier positiv besetzt und meint eine temporale Verfaßtheit der Sekunde, ein Gebanntsein, wie es von Baudelaire literarisiert und durch Walter Benjamin später auch theoretisch nachvollzogen wurde.

Bezeichnenderweise bildet das Areal des Bahnhofs als transitorischer Ort des Kommens und Gehens auch Salters Romanauftakt. Hier liegt neuerlich eine nicht nur strukturelle Ähnlichkeit zu Virgina Woolfs Paddington-Station. Bei Woolf heißt es: „Die Sonne ging gerade unter, und die große Glaskuppel am Ende des Bahnhofs strahlte in feurigem Licht. Sie war in glühendes Gelb und Rot getaucht, und die Eisenträger lagen wie ein Muster darüber. Sie beeindruckte und erregte mich zutiefst.“ Salters Erzähler beschreibt diese Szenerie beim Aufbruch vom Pariser Bahnhof ebenfalls als ein verborgenes Glück: „Im Bahnhof herrscht großes Gedränge. Da sind Kinder, Hunde, Familien mit alten Koffern, die von Stricken zusammengehalten werden. Ich bahne mir einen Weg hindurch. Es ist wie in einem Tunnel. Schließlich trete ich hinaus in die blendende Helligkeit des quai, über mir ein Dach aus Glaspaneelen, welches das Licht noch zu verstärken scheint.“

Auch hier vermittelt sich über die „Einfachheit des Ganzen“ ein Einblick in das Innere des Menschen als einer terra incognita, die stets gefährdet ist, wie sich schon wenig später bei der Ankunft in Autun zeigt: „Nur zwei oder drei Leute steigen aus. Es ist noch nicht Mittag. An der Wand hängt eine große Uhr mit schwarzen Zeigern, von denen der eine jede halbe Minute ein wenig ruckt. Als ich losgehe, setzt sich der Zug in Bewegung. Irgendwie macht es mir angst, daß er ohne mich weiterfährt.“

James Salter: „Ein Spiel und ein Zeitvertreib“. Roman. Deutsch von Beatrice Howeg. Berlin Verlag, Berlin 1998, 217 Seiten, 36 DM